"Emil und die Detektive" an der Volksbühne: Parole Kill Bill
Frank Castorf inszeniert Erich Kästners Stück unter Verwendung von Texten aus Döblins "Berlin Alexanderplatz". Es gibt zwei Versionen: Für Neun- und für 17jährige.
E in Kinderstück zu Weihnachten. Das ist eine Strategie, die viele Theater fahren, weil es Spaß macht, neue Zuschauer und womöglich Eintrittsgelder bringt. Wenn die kriselnde Berliner Volksbühne nun "Emil und die Detektive" auf den Spielplan setzt, folgt das dieser ganz normalen Logik. Ungewöhnlich wird sie nur deshalb, weil der Hausherr Frank Castorf selbst inszeniert und das einfach Verständliche nicht gerade sein Spezialgebiet scheint.
Der Plan aber, Erich Kästners Großstadtroman für Kinder zusammen mit einer Wiederaufnahme der vor sechs Jahren entstandenen Inszenierung "Berlin Alexanderplatz" zu verbinden, ist ein seit mehreren Jahren gehegtes Projekt des Regisseurs. Beide Inszenierungen nutzen das gleiche Bühnenbild von Bert Neumann, nur dass die Bar, in der Franz Biberkopf in so vielen delirierenden Dialogen um seinen Verstand gebracht wird, nun zur Schießbude auf dem Rummel mutiert ist, in der die kleinen Detektive sich schon mal an der Knarre üben. Da ahnt man schon: Das sind nicht mehr ganz die Kinder, wie wir sie von Kästner kennen. Und auch Grundeis-Müller-Kiesling, der verfolgte Dieb, der mit dem von Emils Mutter am Friseurstuhl mühsam erwaschenem Geld abgehauen ist, ist kein leicht zu verurteilender Bösewicht, sondern ein Verwandter Biberkopfs, wenn nicht gar er selbst.
Zumindest in der Langfassung für Erwachsene wird der Dieb, den Milan Peschel sehr überzeugend als etwas weinerlichen Underdog spielt, in die gleichen, schwer durchschaubaren kriminellen Machenschaften verwickelt, die auch Biberkopf erst seinen Arm und später seine Geliebte kosten. Aber das ist längst nicht die einzige Rolle, die sich in unterschiedliche Figuren aufsplittet und sich damit jeder eindeutigen Be- und Verurteilung entzieht. Die Schauspielerin der Mutter etwa, Luise Berndt, die selbst noch wie ein Kind wirkt, spielt auch die schönen Frauen der Großstadt im Goldlamekleid - keine schlechte Idee, um von Emils und Erich Kästners hypertropher Mutterliebe zu erzählen.
Etwas weiter hergeholt scheint da schon der Einfall, die Rolle der Großmutter Emils mit dem alten Zottelbart Michael Schweighöfer zu besetzen, der zugleich Charlotte von Mahlsdorf, den berühmtesten Transvestiten Ostberlins, verkörpert. Weniger verwirrend ist das Auftreten des Autors selbst, der, von Georg Friedrich mit viel wienerischer Windigkeit und proletarischer Dreistigkeit versehen, zunächst darüber klagt, kein Geld zum Reisen zu haben und so seinen Südseeroman nicht schreiben zu können. Das zu erzählen, was er kennt, darauf beschränkt er sich nur notgedrungen. Mehr scheint ihm zu liegen, als Box- und Aggressionstrainer von Emil und den Detektiven zu agieren.
Überhaupt die Kinder, allesamt von Kindern gespielt, in einem sehr offenen, improvisierenden Duktus. Sie bleiben am dichtesten an der Geschichte dran, oft unterstützt von einer Kamera und Filmmusik. Emil (David Gabel) beeindruckt nebenbei durch Klavier- und Geigenspiel. Seine Freundin Pony Hütchen wird von zwei Mädchen zugleich gespielt, wie auch der kleine Dienstag. Das scheint nicht zuletzt ein Zugeständnis an das Kollektiv der kleinen Schauspieler, die ihre Kämpfe um die Verteilung der Rollen mit ins Spiel einbeziehen.
Aber viele ihrer Dialoge sind auch sehr künstlich und allein deshalb witzig, weil sie von Kindern geführt werden. Sie diskutieren über die Gewaltfrage (muss man den Dieb niederschießen), machen Witze über Parteidisziplin und weisen die Boxtrainer-Autoren-Figur, die womöglich mit einer einfacheren Handlungsführung zufrieden gewesen wäre, einmal mit einer Analyse der Genresprünge in "Kill Bill" in seine Schranken. Sie sind alles andere als naiv und unschuldig, weil dieses Konzept von Kindheit längst der Wirklichkeit nicht mehr entspricht.
So weit, so gut. Allein, um in der einigermaßen unterhaltenden dreistündigen Aufführung von "Emil und die Detektive" das Hinüberspielen in Döblins Roman zu verstehen, muss man die doch recht monumental und weitschweifig geratenen fünf Stunden "Berlin Alexanderplatz" gesehen haben. Ein seltsamer Umgang mit der Ökonomie der Aufmerksamkeit, der aber doch eines der Probleme des Hauses recht gut illustriert: die Selbstbezüglichkeit, das Schmoren im eigenen Saft. Um den einzelnen Inszenierungen an der Volksbühne folgen zu können, musste man üben und sich einsehen. Diese Initiation war ja mit ein Teil der Erfolgsgeschichte als Kultstätte. Aber irgendwann ist der Initiierte allein mit weiteren Bestätigungsritualen seiner Zugehörigkeit auch nicht mehr zufrieden.
Ob es an der Volksbühne Konzepte gibt, um diesem Problem zu entkommen, ist derzeit nicht recht herauszubekommen. Die Berliner Bühne, der es in den Neunzigerjahren gelang, den Begriff von dem, wie ein Theater sich zur Gegenwart und Vergangenheit einer Stadt und eines Landes positionieren kann, entscheidend neu zu deuten, hat schon seit einiger Zeit an Fahrt verloren. Diese Feststellung ist nicht neu, und eine Zeitlang wartete man ab, ob der Intendant Frank Castorf auch diese Krise irgendwann ins Produktive zu wenden wüsste. Doch inzwischen reagiert man am Haus eher beleidigt auf die wiederholte Feststellung der künstlerischen Stagnation. Dass man sich im Spiegel auf drei Seiten Sorgen um das Verramschen des Diskussionspotenzials der Volksbühne machte und mit Stimmen von denen belegt, die wie Schlingensief da nicht mehr arbeiten wollen, hebt die Stimmung am Haus nicht gerade.
Und so wollte die Chefdramaturgin Gabriele Gysi, der ich zwei Tage nach dem Erscheinen des Spiegel-Artikels im Büro des Intendanten gegenübersaß, mit mir nicht über Krise des Hauses und Stagnation des Konzepts reden, weil sie diese nicht sieht. Sie will lieber über die letzten Inszenierungen und die Ungerechtigkeit der Kritik diskutieren. Es ist schwer, jemand zu fragen, wie er Hilfe organisieren will, wenn der Befund der Notwendigkeit, danach zu suchen, nicht geteilt wird. Kopfschüttelnd blickt Gabriele Gysi auf die Rezeption von "Nord" zurück, Castorfs Geschichte über den Dichter Céline und seine erste Premiere dieser Spielzeit. So wichtig sei das Thema Krieg, das darin verhandelt wird, und niemand greife die Inszenierung als Anlass des Nachdenkens darüber auf.
Tatsächlich waren die Kritiken viel mehr damit beschäftigt, unter den wüsten Clownerien und hysterischen Brüllereien der Aufführung die Geschichte von Céline überhaupt zu finden. Dass es da um eine Art geschichtstherapeutische Leistung gehen sollte, um ein Freilegen der verdrängten nationalsozialistischen Innenperspektive, verstand man zwar aus dem Programmzettel sofort, aus der Aufführung aber erst nach Stunden. Historisch setzt "Nord" da an, wo "Berlin Alexanderplatz" (1928) und "Emil und die Detektive" von 1929 aufhören, die so zum Prolog der Katastrophe werden.
Immer wieder Castorf. Theoretisch gesprochen ist es zwar, wie Gabriele Gysi beklagte, falsch, die Beurteilung eines großen Theaters nur über eine Person zu führen; praktisch ist das Teil des Problems, dass sich neben ihm und René Pollesch, der immer mal wieder ein gutes Stück hinkriegt, nicht mehr viel rührt. Polleschs Inszenierungen sind vom Prater, der kleineren Nebenspielstätte, ins große Haus gerückt, weil der Prater saniert wird. 2009 steht dann in dem großen Volksbühnenhaus am Rosa-Luxemburg-Platz die Sanierung von Bühne und Zuschauerraum an. Mit Glück wird dann alles im bis dahin erweiterten Prater gespielt. Diese sanierungsbedingte Reduktion von zwei auf eine Spielstätte trägt natürlich zum Gefühl der Verengung des Konzepts bei.
"Es wird etwas geschehen, so oder so. Der nächsten Generation werden Räume geöffnet", sagt Gabriele Gysi, etwas vage die Befürchtungen abwehrend, dass alles so bleibt, wie es ist. Eigentlich kann man "Emil und die Detektive" auch dafür als ein Bekenntnis lesen. Die Inszenierung lebt auch vom Wunsch, jetzt aber mal für Zuschauer zu spielen, die sich nicht schon seit fünfzehn Jahren hier den Hintern platt sitzen. Vielleicht auch mal was von dem Ballast abzuschütteln, die eigene Geschichte immer mit zu schleppen. Als Intention ist das spürbar, so richtig durchgezogen wird das dann aber doch noch nicht. Denn die Kinder, für die diese Inszenierung gemacht ist, müssen Theatererfahrung doch auch schon mit sehr großen Löffeln gegessen haben.
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