In mystischem Halbdunkel: Götter, ganz nah
Im indischen Spiti-Tal, wo der Dalai Lama seine letzte Ruhestätte finden wird, hat sich das Wissen um Tibets Tradition erhalten. Noch.
Der Cassettenrecorder leiert Hindi-Popsongs, während sich der Lkw langsam die Serpentinen hinaufarbeitet. Ganesch summt mit und freut sich über die ungewöhnliche Gesellschaft: Heute hat er neben seiner üblichen Holzladung zwei Europäer an Bord, die den frühmorgendlichen Bus nach Kaza verpasst haben. Jeden Tag fährt er diese Strecke, am frühen Morgen von Manali über das Gebirge und am nächsten Tag wieder zurück. Der Brennholzverkauf ist ein gutes Geschäft in der nahezu baumlosen Hochgebirgswüste. Wenn Mitte Oktober der erste Schnee auf dem 4.550 Meter hohen Kunzum-Pass fällt, ist Spiti bis Juni vom restlichen Indien abgeschnitten. „Dann gibt es jeden Tag Kartoffeln und Bohnen und manchmal eingelegtes Gemüse“, erklärt Ganesh. „Das Holz wird zum Kochen gebraucht - zum Heizen und für warmes Wasser fehlt das Geld.“ Im Verwaltungsstädtchen Kaza, der einzigen nennenswerten Ansiedlung in der Region, setzt Ganesch uns ab.
Veranstalter: Neue Wege Reisen (www.neuewege.com) und Auf und Davon Reisen (www.auf-und-davon-reisen.de) bieten drei- bis vierwöchige Reisen nach Spiti incl. Trekking-Tour für 2.395 bzw. 2.690 Euro (ab/bis Frankfurt) an. Der Indien-Spezialist Comtour (www.comtour.de) hat eine dreiwöchige Reise durch die Himalaja-Provinzen Spiti, Lahaul und Ladakh im Angebot (1.870 Euro ab/bis Delhi).
Reisezeit: Juni bis Oktober.
hplahaulspiti.nic.in/tourism.htm und www.himachaltourism.nic.in/laha.htm
Spiti war bis 1991 für Ausländer gesperrt, und auch heute kommt nur selten ein Tourist in diese abgelegene Berggegend. Umschlossen von 6.000ern ist das Spiti-Tal eine der eindrucksvollsten, aber auch am schwersten zugänglichen Regionen des indischen Himalaja. Über 150 Kilometer fließt der Fluss Spiti durch gigantische ockerfarbene Felsarenen bis zur tibetischen Grenze. Er windet sich entlang schneebedeckten Gipfeln, vorbei an Dörfern aus Lehm und Bruchstein, winzig erscheinende Vorposten der Menschheit inmitten einer überwältigenden Naturkulisse. „Hier müssen die Götter leben - dies ist kein Platz für Menschen“, notierte Literaturnobelpreisträger Rudyard Kipling, bei einem Besuch.
Das Gefühl, den Göttern besonders nahe zu sein, hat schon vor über tausend Jahren Pilger und Mönche nach Spiti gezogen, das damals zum tibetischen Königreich Guge gehörte. Entlang den Pilgerrouten wurden viele buddhistische Klöster errichtet. Sie sind die kulturellen Zentren der kargen Gebirgswüste. Das Gebiet fiel an Indien, wodurch das reiche kulturelle Erbe vor der Zerstörung durch die chinesische Volksarmee bewahrt blieb. Hier, in der Abgeschiedenheit der Berge, sind die tibetischen Traditionen noch lebendig. Die Bewohner sind buddhistischen Glaubens, feiern die traditionellen Feste, und in den Straßen von Kaza wird tibetisch gesprochen.
Die kleinen lokalen Restaurants servieren Momos (Teigtaschen), Thugkpa (Nudelsuppe) oder Kiju, einen Eintopf aus Nudeln und Gemüse. 14 km von Kaza entfernt, in 4.116 m Höhe, liegt das Kloster Ki, das größte in Spiti. Ganesch hat angeboten, uns auf dem Rückweg bis hierhin mitzunehmen. Die Straße führt durch Felder, deren grüne und schwarze Furchen sich wie bizarre Patchworkmuster vom ockerfarbenen Grund des Tals abheben. Dazwischen glitzern Pappeln golden im Wind. Ein paar Frauen waschen Betttücher im eiskalten Flusswasser. Im Dunst taucht auf der anderen Seite des Flusses die Silhouette eines Dorfes auf. Schließlich kommen die weiß getünchten Klostergebäude in Sicht, die sich einen steilen, konischen Hügel hinaufziehen.
Der einfache Mönch in safranfarbener Robe, der uns am Tor begrüßt, entpuppt sich als Vorsteher des Klosters. Er zeigt uns die wertvolle Sammlung alter Thangkas, die in symbolischen Darstellungen den buddhistischen Kosmos und den Weg zur Erlösung zeigen. Dreimal täglich, erklärt uns der Lama, ertönt ein auf einer Muschel geblasenes Signal, das die 250 Mönche, die hier leben, zum Essen ruft. Einige Kilometer flussabwärts thront das Dhankar-Kloster auf einer Felswand, die zum Fluss hin 600 m steil abfällt. Neben dem Eingangstor pflügt ein Bauer mit seinem Yak und einem einfachen Pflug ein Feld. Davor steht eine Gruppe kleiner Kinder mit von der Sonne verkrusteter Haut, struppigen Haaren und laufenden Nasen. Sie beäugen uns zunächst kritisch, holen dann aber einen Mönch, der uns die Tür öffnet und das alte Kloster zeigt.
Im Inneren herrscht mystisches Halbdunkel - besonders in der Bibliothek, wo hunderte von Schriftrollen nur von Kerzenschein beleuchtet lagern. Eine Treppe führt auf das Dach des Klosters. Von hier aus hat man einen weiten Blick über das Spiti- Tal und die verschneiten Berggipfel, eingerahmt von bunt im Wind flatternden Gebetsfahnen.
Im Untergeschoss des Klosters wurde mit viel Liebe ein kleines Museum eingerichtet, das die Lebensweise der Bewohner in den vergangenen Jahrhunderten zeigt. Viel, so scheint es, hat sich hier seitdem nicht verändert. Der letzte Ort vor der tibetischen Grenze ist Tabo, zwei Wegstunden von Kaza entfernt. Anders als die festungsähnlichen Berg-Gompas von Ki und Dhankar liegt das hiesige Kloster in der Talsohle inmitten eines kleinen Dorfes. Tabo, im Jahre 996 erbaut, gilt als eines der wichtigsten tibetischen Klöster der Welt. In der Versammlungshalle sind 33 überlebensgroße Boddhisattva-Statuen in Form eines riesigen begehbaren Mandalas angeordnet, die Wände sind mit feinen Malereien und Mustern verziert. Die Statuen mit den unterschiedlichen rituellen Körperhaltungen, die Stille und die warmen Farben, die die Jahrhunderte überdauert haben, strahlen meditative Ruhe aus.
Weniger still geht es dagegen auf dem Vorplatz des Klosters zu. Aus allen Richtungen strömen Menschen in traditioneller Kleidung zusammen: Heute findet der jährliche Festtag des Klosters statt. Trommeln, Zimbeln und meterlange Hörner dröhnen, dazu werden Maskentänze aufgeführt. Die Tänzer mit Tier- und Geistermasken folgen einer genauen Choreografie, doch gelegentliche Ungenauigkeiten sind nicht zu übersehen. „Das Wissen um diese Tänze geht langsam verloren“, meint eine einheimische Zuschauerin. „Sie haben eine große symbolische Bedeutung - aber wir kennen sie kaum noch. Fast niemand ist mehr in der Lage, die Tänze korrekt auszuführen, geschweige denn diese zu lehren.“ Wenn in Spiti das geistige Erbe der Tibeter in Vergessenheit gerät, wird ein weiteres wichtiges Stück Tibets zerstört sein.
Ein Lichtblick könnte das vom Dalai Lama geförderte Institut in Dharamsala sein, das sich mit der Erhaltung der tibetischen Musik, der Tänze und der Kostümschneiderkunst befasst. Überhaupt hat der Ort eine besondere Beziehung zum Dalai Lama: Seine letzte Ruhestätte wird hier in der Abgeschiedenheit Spitis sein, wo die Götter Tibets trotz alldem noch lebendig sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!