Geschichte zum Heiligabend: Weiße Weihnachten

Ein befreiter Marco, Cola zum Koks und brennende Erdnüsse - Weihnachten kann beginnen.

Marco W. war befreit worden, und nun konnte Weihnachten beginnen. Jetzt konnten wir doch noch alle froh werden. Ich rief Judith an:

"Sie haben Marco W. befreit!"

"Cool!"

"Ich komm sofort rüber, und wir feiern Weihnachten!" - "Ist es denn schon so weit? Ich war vorhin in der Stadt, die kaufen immer noch Geschenke und so. Ich glaube, es ist erst nächste Woche."

"Nee, es ist schon vierter Advent. Oder mindestens dritter. Es muss also in den nächsten Tagen sein. Da können wir ruhig schon feiern, also, wo der Marco W. doch befreit wurde."

"Stimmt auch wieder."

"Im Fernsehen sagen sie, jetzt ist alles gut. Der ist bei seiner Mutter und lässt sich von ihr eine Woche lang verwöhnen. Eine feine Rückenmassage, Qualitätsspielzeug und so weiter Das machen wir jetzt auch. Ich bring dir was mit. Was hättest du denn gern?"

"Batterien für den Wecker aus Südkorea. Und eine Flasche Sprudel."

"Avec gaz?" - "Mais oui. Und eine große Flasche Coca-Cola. ECHTE Coca-Cola, keine Cola mit Vanille, keine Cola Zero, keine Light, sondern richtige, normale Coca-Cola."

"So so. Geht klar."

"Ich habe bis heute Nachmittag um halb drei gekokst, da brauche ich das. Da hilft nur RICHTIGE Coca-Cola, nicht das Zeug, das du letztes Mal

"Hab ich schon verstanden. Wann hast du denn angefangen zu koksen?"

"Gestern."

"Und da kannst du noch reden?"

"Geht so "

Sie wirkte tatsächlich etwas ängstlich und liebesbedürftig, aber nicht besorgniserregend, eher rührend. Nie hätte ich gedacht, dass sie etwas Schreckliches hinter sich hatte. Wie jeder normale Mensch kokste sie zweimal im Jahr, und da wir Weihnachten hatten, lag es sogar nahe. "Mein Gott, du glaubst nicht, was mir passiert ist, ganz am Ende, als ich nach Hause torkelte. Ich war SOOOOO FERTIG, und wer läuft zehn Meter vor meiner Haustür in mich hinein?"

"Mathias Döpfner?"

"Nein, Maxim Biller! Wer ist denn Mathias Döpfner?"

Ich erklärte ihr, wer das war. Klassischer Heiratsschwindler, alle zwei Jahre eine andere Zeitung ruiniert, dann bei Friede Springer Chopin vorgespielt. Er trat gerade im Fernsehen auf, deshalb kam ich auf ihn. Das Wunder im Leben dieses Mannes war, dass er nicht auch bei Friede Springer nach zwei Jahren zum Teufel gejagt wurde. Dass der Schwindel diesmal NICHT aufflog. Sehr seltsam. Da musste echte Liebe im Spiel sein. Na ja, das dicke Ende kam sicher noch, und dann doppelt dick. Solche Dinge konnte man übrigens gerade Judith gut erklären, und sie behielt auch alles. Das war verblüffend: Auch alles, was sie im Vollrausch hörte, behielt sie, und zwar, soweit ich beurteilen kann, für immer. Eine tolle Person, wie man sich denken kann.

Ich fragte, was sie noch brauche. Sie sagte: Erdnüsse, gesalzen, einen Tannenzweig, zwei bis vier Kerzen, Zitronen, Honig, Lebkuchen, eine Zeitung, den DVD-Player, einen alten und einen neuen Film auf DVD und natürlich Weihnachtsgeschenke. Dann konnte Heiligabend starten. Nun ging es rasend schnell: Ich steckte den DVD-Player in Lars-Olav Baiers Berlinale-Tasche, dazu die anderen genannten Sachen und fuhr zur Videothek "451", wo ich den Film "Hauptsache glücklich" von 1941 mit Heinz Rühmann und Hertha Feiler auslieh sowie "Die Pariserin", das war ein moderner Farbfilm für junge Leute mit Brigitte Bardot aus dem Jahr 1957. Dann präparierte ich den Geschenktisch mit Kerzen, Batterien, Lebkuchen, Erdnüssen und so weiter, während Judith Ingwertee kochte und das dreckige Geschirr der letzten Wochen abwusch. Ich schüttelte die Betten und öffnete das Fenster. Als ich mich wieder umdrehte, brannten bereits die Erdnüsse. Ich wusste gar nicht, dass Erdnüsse so extrem brennbar sind. Wie echte Brandbeschleuniger. Wenn Neonazis brennende Erdnusstüten in ein Asylantenheim werfen würden, hätten wir prompt das totale Pogrom. Aber sie wussten es ja auch nicht.

Und mir machte es nichts aus, im Gegenteil: Es erinnerte mich an früher, an die seligen Weihnachten meiner Kindheit. Immer brannte der Baum, spätestens, wenn die Eltern sich zum Streit und zum Mord und Totschlag ins Schlafzimmer zurückgezogen hatten. Ich pustete das Feuer aus - die Packung war unter eine Teeleuchte geraten - und rief Judith herbei:

"Komm, Schätzchen, Weihnachten fängt an! Es hat bereits gebrannt. Jetzt müssen wir Bescherung machen."

Sie kam sofort. Judith kann man selbst an Heiligabend etwas sagen, und sie antwortet nicht mit einem Schreianfall wie andere Frauen. Alle normalen deutschen Frauen machen ihre Männer an Heiligabend zur Sau - nicht so meine Judith. Sie schenkte mir einen selbst geschneiderten Mantel und ich ihr die Batterien für den Wecker aus Südkorea.

Drei der vier Kerzen brannten weiter. Da kam natürlich romantische Stimmung auf. Im Fernsehen lief immer noch "Ein Herz für Kinder", diese Benefiz-Gala von Mathias Döpfner, endlose dreieinhalb Stunden lang. Friede Springer saß neben ihm und hielt seine Hand. Judith und ich saßen davor und hielten auch unsere Hände, aber konnten einfach nicht glauben, was wir sahen. Man hatte die sichtbar bösesten Menschen des ganzen Landes in eine Halle getan, wo sie, indem sie ein Promille ihres monatlichen quasikriminellen Einkommens an krebskranke Waisenkinder im Sudan steuerabzugsfähig "spendeten", mit Pauken und Trompeten als Wohltäter der Menschheit gefeiert wurden. Im Grunde hätte Gott es ganz leicht, die Erde zum Guten zu wenden: Er müsste nur einen Blitz in diese Halle der Bösen einschlagen lassen.

Als Veronica Ferres mit ihrer Lobeshymne an die edlen Spender die Schmerzgrenze von zwölf Minuten sprengte (und wir als weitere Laudatoren noch Dieter Thomas Heck, Dr. Hubert Burda, Frau Schreinemakers, Joachim Fuchsberger, Frank Schirrmacher und Tom Cruise ausmachten), schalteten wir auf "Hauptsache glücklich" um.

Das war das richtige Motto. Auch an Weihnachten sollte man vor allen Dingen glücklich sein. Als draußen die Glocken der nahen Zionskirche zur mitternächtlichen Stunde anschlugen, hob ich mein Glas Ingwertee und sagte, nicht ohne einen Hauch Verlegenheit, die Christenheit möge sich ein Beispiel nehmen an diesem innigen Feste zu Ehren der Geburt des Heilands, und in diesem Sinne wolle ich in ein schlichtes dreifaches Halleluja ausbrechen. Judith sagte "Amen, so sei es". Wie Josef und Maria saßen wir in der verwüsteten Hütte, nahmen Judiths namenlose Katzen als Tiere aus der Bibel (es müssen nicht immer Esel und Schafe sein) und vertilgten den Rest von dem Koks.

"Und auf Marco W.!", sagte ich.

"Und auf dass die Türkei nie in die EU kommt!", sagte Judith.

Ich nickte. Unser Weihnachten ließen wir uns nicht wegnehmen. Wir waren ja nicht fremdenfeindlich. Wir sagten nur: Abendland first! Wozu hatten wir sie denn sonst, unsere schöne KULTUR? Da waren wir uns einig, und Judith legte feierlich die nächste line.

Ich dachte an Marco W., wie er im Kreise seiner Lieben nun ebenfalls feierte, und an unsere eigenen Angehörigen, zum Beispiel Maxim Biller.

"Auf Maxim!", sagte ich nicht ohne Pathos.

"Auf Maxim na, was der jetzt von mir denkt. Er war so freundlich und aufgedreht, aber ich hab immer so weggeschaut, hab das Gesicht so weggedreht, damit er meine Fahne nicht merkt. Ich hatte eine ganze Flasche Wodka und am Ende eine ganze Flasche weißen Martini getrunken "

"Auf Katrin Kruse!"

"Auf Katrin Kruse. Weißt du jetzt, was mit der Uhr ist?"

"Ja. Sie hat sie noch. Es muss ZWEI davon geben. Hätte ich eigentlich nicht gedacht, bei dem feinen Stück."

"Vielleicht hat sie ein Imitat anfertigen lassen, um mögliche Diebe an der Nase "

"Das ist heute kein Thema, Schatz. Trinken wir auf Sonja Baum. Oder nein, jetzt bist du an der Reihe. Auf welchen Liebsten stoßen wir an?"

"Mir fällt keiner ein "

"Guck auf die Adressenliste von deinem Handy."

"Da - Matthias Matussek! Trinken wir auf sein Wohl!"

"Happy Weihnachten, Matthias Matussek! Und jetzt ICH wieder: auf Johannes Erasmus! Und meinen Bruder Ekkehardt. Und Ulrike Matussek. Und meine Cousine Petra aus Hamburg-Hochkamp "

Ich sah jetzt nämlich selbst auf meinen Handy-Speicher und fand schnell weitere big names, in alphabetischer Reihenfolge: Heiko Arntz, Bazon Brock, Nina Borgmann, Günter Wallraff, Peter Unfried, Oliver Pocher, der Papst, Bettina Semmer, Karline Weiss, Helmut Ziegler, Katja Scholtz, Ellen Kästele, Karen Krabbe, Jost Burger, Marcel Reich-Ranicki, Esther Smirnovs, Boris Grau aus Tel Aviv, Harriet Wolff, Hans Nieswandt, Britta Steffenhagen, Stephanie Rossdeutscher, Lilly von Czettritz, Tanja Drinhausen, Moritz von Jagow, Joseph von Westphalen, Sophie Schaumlöffel, Feridun Zaimoglu und Frank Schirrmacher. Das war lustig, denn der, Frank Schirrmacher, war auch gerade auf der Glotze. Er hielt die nächste Dankesrede, lobte und pries die spendenden Reichen. Ich schmetterte:

"Auf Frank Schirrmacher!"

"Jetzt pass doch auf! Du verschüttest mir das ganze Koks "

"Egal, heute ist Weihnachten!"

"Stimmt auch wieder. Auf Frank Schirrmacher."

Und wir fielen uns in die Arme.

O Tannenbaum!

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