Schriften zu Zeitschriften: Zeitkapsel nach 1945

Das Magazin "Sinn und Form" präsentiert die Geschichte einer Flucht 1945. Von Breslau nach Heidelberg ging die Irrfahrt des Mediziners Viktor von Weizsäcker.

Inzwischen auch bei der ARS als Fernsehfilm angekommen: "Die Flucht". Bild: dpa

Ob man bei Adolf Hitler im Führerbunker rumhängt, mit Günter Grass SS-Uniformen auszieht oder hoch zu Ross mit Maria Furtwängler aus dem eiskalten Ostpreußen flieht: Das Jahr 1945 lässt die Fantasie nicht nur der Großeltern, sondern auch der Nachgeborenen nicht los. Es war eine Zeit der Wirren: Deutschland in Auflösung und vor der Erlösung von der Diktatur, in Todesfurcht und mit Lebenslust, zwischen Winter und Sommer dieses chaotischen Jahres, voller NS-Kontinuitäten und neuer Freiheit.

"1945" ist mehr als sechzig Jahre danach, Fernsehen und Kino sei Dank, zu einer Pathosformel wie "1789" geworden. Und wenn Nina Hoss im kommenden Herbst gewohnt ausdrucksvoll durch die Berliner Trümmerwüste des Sommers 1945 taumelt, wird sich die Nation einmal mehr andächtig im Kino zu einer Geschichtsstunde versammeln. Max Färberböck ("Aimée und Jaguar") hat den Erlebnisbericht einer jungen Frau aus diesen Monaten verfilmt, der vor einigen Jahren unter dem Titel "Anonyma" in Hans Magnus Enzensbergers "Anderer Bibliothek" erschien und für Furore sorgte.

Umso bemerkenswerter ist es, dass immer noch Erzählungen auftauchen, die unser Bild jener Zeit präzisieren können. Sinn und Form präsentiert auf vierzig Seiten ein solches Dokument: "Reisebeschreibung 1945" hat Viktor von Weizsäcker seine Aufzeichnungen überschrieben, die seine Erlebnisse zwischen Januar und Juli 1945 schildern. Dass diese Notate aus seinem Nachlass veröffentlicht werden, ist ein Glücksfall: Viele genaue Beobachtungen und eine schlichte Sprache sorgen für lehrreiche und bewegende Lektüreerfahrungen - eine erstaunliche intellektuell-emotionale Zeitkapsel.

Viktor von Weizsäcker (1887-1957), der Onkel Richard und Carl-Friedrich von Weizsäckers, war Mediziner, Philosoph und von Sigmund Freud beeinflusster Begründer der medizinischen Anthropologie. Seit 1941 Ordinarius für Neurologie in Breslau, wirkte er nach dem Krieg in Heidelberg, wo er u. a. Alexander Mitscherlich beeinflusste. Seine tagebuchartigen Aufzeichnungen über das Jahr 1945 folgen einer Familientradition: Jedes Jahr zu Weihnachten mussten die Kinder eine "Reisebeschreibung" darbieten. Weizsäcker beschreibt eine Reise des Überlebens - kaum jemals sind die bizarren Parallelwelten dieser Monate so eindringlich und detailliert beschrieben worden, inklusive der Kontinuitäten und moralischen Dilemmata deutscher Bildungsbürgerlichkeit.

Vom verschneiten Breslau aus macht sich der regimeferne Mediziner Ende Januar auf den Weg - Anfang Juli wird er Heidelberg erreichen. Es ist eine Irrfahrt angesichts der heranrückenden Front: Als Leiter eines Hirnverletzten-Lazaretts versucht er in unterschiedlichen Städten bei den militärischen Instanzen für die Verwundeten zu sorgen. Der renommierte Wissenschaftler wird oft bevorzugt behandelt. Anfang Februar ist er in Dresden. Es herrscht eine unwirkliche Atmosphäre: Alle haben Angst vor den Russen - und sein Verlag schickt ihm einen Buchvertrag zu. Erschütternd dann seine karge Beschreibung des Bombardements von Dresden, das er mit Glück überlebt. "In meiner Seele herrschte eine Art von Totenstille, eine verdächtige Unbeweglichkeit, ein sicheres Wissen: 'Dies wird nie wieder gut werden.' So sieht das Ende also aus." Anderntags eine irrwitzige Trostszene aus dem Kosmos deutscher Bildungsbürgerlichkeit, mit Blick auf die rauchenden Ruinen Dresdens: "Bei Kerzenlicht" spielte ein Kollege "die III. Klaviersonate Beethovens, wirklich schön; aber meine Erstarrung löste sich in der Musik nicht."

"Nach Westen, nach Westen!": Seine Reise führt weiter, durch ein Land, in dem Krieg und Terror, Chaos und Ordnung zugleich existieren. Den fachlichen Blick gibt er nie auf, dazwischen immer wieder Spaziergänge, geistvolle Lektüre, Gespräche mit Kollegen und die Sorge um die Familie. Im thüringischen Heiligenstadt erlebt er am 9. April die Amerikaner "mit schönen Rehaugen", nachdem zwei Tage zuvor die HJ noch lächerliche Umzüge veranstaltet hatte: Es "saßen einige Amis mit Gewehren unter den Linden, und im Flur fanden sich ebensolche. Das war alles." Eine Befreiung: "Längst erwartet, war das Ereignis nun doch unvergleichbar und wie der Anfang des Lebens."

"Sinn und Form", Heft 6/2007, 9 Euro

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.