Erste Tote nach Parteienverbot

TÜRKEI Bei Protesten von Kurden gegen ein Urteil des Verfassungsgerichts werden im Südosten zwei Menschen erschossen. Auch in Istanbul verschärft sich die Konfrontation

„Wo, wenn nicht im Parlament, soll eine politische Lösung ausgehandelt werden?“

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Bei Auseinandersetzungen nach dem Verbot der kurdischen DTP sind gestern zwei Menschen getötet worden. Seit Freitagabend, nach Verkündung des Verbots durch das türkische Verfassungsgericht, wird in praktisch allen Städten im kurdisch besiedelten Südosten des Landes demonstriert. Dazu gehört, dass die meisten Ladenbesitzer aus Protest ihre Geschäfte geschlossen halten. Diejenigen, die sich weigern zu schließen, werden von Demonstranten aufgefordert, ebenfalls dichtzumachen. Als kurdische Jugendliche in Bulanik, einer Kleinstadt in der Nähe von Mus, gestern einem Ladenbesitzer drohten, sein Geschäft zu demolieren, wenn dieser nicht die Rollläden herunterlassen würde, griff dieser zu seinem Gewehr, verfolgte die Demonstranten auf die Straße und tötete sie. Bei der Schießerei wurden acht weitere Menschen verletzt.

Der Zwischenfall in Bulanik markiert den bisherigen Höhepunkt einer sich verschärfenden Auseinandersetzung zwischen Kurden und Türken in vielen Teilen des Landes. Seit zwei Tagen dokumentieren die Fernsehanstalten und Zeitungen Szenen aus dem Istanbuler Armenviertel Dolapdere, wo sich die Istanbuler Parteizentrale der DTP befindet. Am Samstag hatten sich dort aufgebrachte Kurden versammelt, um gegen das Verbot zu protestieren. Kurdische Jugendliche zündeten Autos an, warfen Molotowcocktails und schleuderten Steine in umliegende Häuser.

Daraufhin sammelten sich türkische Nationalisten und zogen nach Dolapdere, bewaffnet mit Messern und Baseball-Schlägern. Einige von ihnen hatten aber auch Pistolen, mit denen sie auf aufgebrachte Kurden zielten. Anwohner beobachteten, wie Waffen in einem Auto angeliefert wurden. Es dauerte Stunden, bis die Polizei die Auseinandersetzungen unterbinden konnte.

Ministerpräsident Erdogan rief zur Ruhe auf und forderte die Medien auf, „einzelne, lokale Ereignisse“ nicht zu übertreiben. Doch die vermeintlich lokalen Ereignisse häufen sich. Während im Südosten Kurden auf staatliche Einrichtungen losgehen, machen im Westen türkische Nationalisten Jagd auf Kurden.

In dieser angespannten Situation verkündete die Führung der DTP nach einem Treffen in Diyarbakir am Montagabend, dass auch diejenigen ihrer Abgeordneten, die von dem Parteiverbot nicht direkt betroffen sind, das Parlament verlassen würden. In einer hochemotionalen Fernsehdebatte beschwor danach Hasan Cemal, einer der prominentesten türkischen Publizisten, der sich in den letzten Jahren für die Rechte der Kurden stark gemacht hatte, DTP-Chef Ahmet Türk, die parlamentarische Arbeit nicht aufzugeben. „Wo, wenn nicht im Parlament, soll eine politische Lösung ausgehandelt werden“, fragte Cemal erregt.

Ahmet Türk schüttelte nur den Kopf: „Sie (die anderen Parteien) haben uns nicht gewollt. Was sollen wir da noch?“ Resigniert schrieb gestern der Publizist Mehmet Ali Birand: „Das Land ist offenbar nicht reif für den Frieden.“