Klitschko ist Doppelweltmeister: Wo ist die Rechte?
Wladimir Klitschko setzt seine gefährlichste Waffe im Kampf gegen Sultan Ibragimow zu selten ein - und wird trotzdem Doppelweltmeister. Dem Publikum hat das nicht gereicht.
Wladimir Klitschko unternahm ein Ablenkungsmanöver. Doch die Zuschauer waren sauer. Er hatte sie mit seinen Fäusten nicht überzeugt, Worte halfen da auch nicht mehr. Knapp 500.000 Dollar habe er für ein Schulprojekt in der Bronx gesammelt, verkündet Klitschko noch im Ring - doch diese Mitteilung wurde von Pfiffen und Buhrufen überlagert. Zu kalt, zu berechnend, zu risikolos war der Sieg, den der Ukrainer im New Yorker Madison Square Garden über den Russen Sultan Ibragimow feierte. Das Publikum hatte einen Musterschüler auf dem Weg zur Reifeprüfung gesehen, strebsam und kontrolliert.
Die Punktrichter beeindruckte Klitschko damit. Sie stimmten mit 119:110/117:111/118:110 klar für ihn und verhalfen dem 31-Jährigen somit zu einem historischen Erfolg: Als amtieren der Weltmeister (IBF) entriss er einem anderen Champion (WBO) den Gürtel. Das war zuletzt dem Briten Lennox Lewis im Jahre 1999 mit einem Triumph über Evander Holyfield gelungen. Das Publikum hingegen beeindruckte Klitschko nicht. Die Amerikaner sind wählerisch, was ihre Sporthelden angeht. Ohnehin waren nur 14.000 in den knapp 20.000 Menschen fassenden "Garden" gekommen. Zwar sprach das Klitschko-Lager von einem "vollen Haus", ließ aber unerwähnt, dass die Oberränge gar nicht geöffnet worden waren. "Ich wollte so imposant wie möglich gewinnen", gab Klitschko nach dem Kampf zu, aber Ibragimow habe ihn mit seiner defensiven Taktik überrascht.
Drei Runden und 14 Sekunden mussten die Zuschauer warten, um zum ersten Mal den gefürchteten Punch des Mannes mit dem Kampfnamen "Dr. Steelhammer" in Aktion zu erleben. Bis zum Schluss setzte Klitschko seine Rechte nur sehr sparsam ein. Selbst Ibragimow sagte: "Ich habe die ganz Zeit auf seine Rechte gewartet." Während er so vor sich hin wartete, unternahm auch der Russe nicht viel. Seine unkontrollierten Angriffe endeten regelmäßig in Ringkämpfen - Ringen ist Volkssport in Ibragimows Heimat Dagestan -, an deren Ende einmal Ibragimow und einmal Klitschko und Ibragimow am Boden landeten.
Klitschko führte den Größenunterschied als Begründung für den unspektakulären Kampf an. Er, der Zwei-Meter-Hüne, habe sich immer so herunterbeugen müssen, um seinen 15 Zentimeter kleineren Widersacher zu treffen. "Wenn ich dabei meine Balance verloren hätte, hätte ich wie ein Clown ausgesehen", erklärte Klitschko (31). Und das mag der Doktor der Sportwissenschaften überhaupt nicht. Er sieht gern gut aus, er kontrolliert die Dinge gern. Nicht umsonst spielt er in seiner Freizeit Schach und Golf. Klitschko prescht nicht unüberlegt vor. Die drei bitteren K.-o.-Niederlagen seiner Karriere haben ihn geformt. Zu smart, zu intelligent, zu schön - und im Ring zu vorsichtig?
Lennox Lewis glaubt, dass dieser Stil Klitschkos Popularität schaden könnte. Zumindest in den USA. Der Brite saß in New York als Co-Kommentator für den US-Sender HBO am Ring und vermisste in dem Kampf ungefähr alles, was gutes Boxen ausmacht. "Ich finde, Klitschko hätte den Knock-out versuchen sollen. Er hätte viel öfter die Rechte bringen müssen, er hat eine perfekte Rechte. Ich hätte auch gern mehr Doppeljabs gesehen, und mehr Kombinationen." Immerhin sei da aber einer, der versuche, in seine Fußstapfen als Superchampion zu treten. Und deshalb hatte Lewis noch einen Rat für Klitschko parat: "Du bist immer so gut wie dein letzter Kampf. Also sollte er sich beeilen und wieder boxen, damit wir diesen Kampf vergessen können."
Als Besitzer zweier WM-Gürtel warten nun auch zwei Pflichtherausforderer auf den Ukrainer: der Russe Alexander Powetkin und der Amerikaner Toby Thompson. "Mal gucken, wer als nächstes für einen Kampf bereit ist", sagte Klitschko und kündigte an, dass er dann in der europäischen Zeitzone boxen werde. Auf Deutschland wollte er sich nicht festlegen.
Klitschkos Trainer Emanuel Steward wirkte am Ende ebenfalls nicht sehr glücklich. Aber er hielt zu seinem Schützling. "Wladimir hat getan, was getan werden musste." Das genügte, um zu gewinnen. Aber nicht, um wie geplant die Herzen der amerikanischen Fans zu erobern. Das versuchte Klitschko mit Worten. Er bleibt noch eine Woche in New York, um in verschiedenen TV-Shows aufzutreten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“