Sommerzeit und Häuserkampf

taz-Serie „1980, 1990 – besetzte Zeiten“ (Teil 1): Lebensgefühle und politische Wirklichkeit passten Anfang der 80er-Jahre für viele Menschen nicht mehr zusammen. Sie suchten gemeinsam nach Alternativen zur Eindimensionalität des Denkens

Alles wäre ganz einfach gewesen – gäbe es die Eigentumsfrage nicht

von Waltraud Schwab

Von Geisterhand gezogen, wandert der fallende Schnee in die Wolken zurück. Der Stein, der eben die Polizeiwanne traf, landet wieder in der Hand des Werfers und wird von ihm ins Pflaster gefügt. Selbst die Demonstranten, die vorwärts drängen, üben sich plötzlich im Rückwärtslauf. Denn im Zeitraffer geht es 25 Jahre zurück.

Im Rückblick ist es leicht, die Jahre um 1980 zu einem Wendepunkt in der Berliner, aber auch der bundesrepublikanischen Geschichte zu stempeln. Es ist eine Zeit, in der der Wohlstand in Deutschland nicht länger politischen Opportunismus, ökonomische Brutalität und gesellschaftliche Ausgrenzung verschleiern kann. Überall – in den Städten, auf dem Land, auch auf den Metaebenen von Theater und Film – wird das disparate Leben sichtbar. Gorleben und Brokdorf auf der einen, die Verfassungsmäßigkeit der friedlichen Nutzung von Atomkraft auf der anderen Seite. Im Fernsehen werden die Holocaust-Filme gezeigt, auf dem Münchner Oktoberfest sterben bei dem vermutlich von Rechtsradikalen verübten Anschlag 13 Menschen, und im gleichen Jahr werden SS-Leute im Majdanek-Prozess freigesprochen. Bootsflüchtlinge in Vietnam, Solidarność in Polen, die Punkbewegung, die Gründung der Grünen als Partei und die erste direkte Wahl der Abgeordneten des EU-Parlaments sind andere Ereignisse von damals. Sogar die Leute, die 1980 sterben, stehen für zeitgeschichtliche Zäsuren: Jean-Paul Sartre, Erich Fromm, Tito, John Lennon.

Kommt zu alldem noch die Einführung der europäischen Sommerzeit. Sie ist belanglos, aber als Symbol für die Verquickung von Ökonomie, Ökologie, Lebensgefühl und Internationalismus taugt sie allemal. Die vier Stichworte sind wichtig, um am Ende bei den Hausbesetzungen in Berlin zu landen und den Zusammenprall zu verstehen zwischen den Vorstellungen derer, die bei der Verwirklichung ihrer alternativen Lebenskonzepte die Widersprüche der Gesellschaft aufspürten, und jenen, die ihre Vorstellungen von „Recht und Ordnung“ dadurch herausgefordert sahen.

Zeitweilig gibt es in Berlin mehr als 280 besetzte Häuser. Immer wieder wird die Polizei vorgeschickt, um Besetzungen zu verhindern oder Häuser zu räumen. Der 12. Dezember 1980, an dem sich Autonome und Polizei einen nachtlangen Kampf lieferten mit unzähligen Verletzten, brennenden Barrikaden, verhafteten Demonstranten, gilt als Schlüsseldatum.

Wie ist das alles gekommen? Warum wehren sich junge Leute so vehement, weil ihnen verboten wird, in ein paar halb verfallenen Häusern zu leben? Warum stellen sich Polizei und Staat mit aller Gewalt auf die Seite derer, die die Häuser verfallen lassen?

Die Hausbesetzerbewegung in den 80er-Jahren in Berlin, aber auch anderswo muss vor dem Hintergrund der damaligen politischen und kulturellen Prämissen gesehen werden. Lebensgefühle und Utopien, Alltag und politische Wirklichkeit passten nicht zusammen. Vielleicht tun sie das nie, aber Anfang der 80er-Jahre war es möglich, dass sich viele darauf verständigten, dass es Alternativen zur Eindimensionalität des Denkens geben kann.

Nach Berlin kamen in den 70er- und 80er-Jahren junge Leute, die sich jenseits gewohnter gesellschaftlicher Muster ausprobieren wollten. Die Stadt war offen dafür, denn umgekehrt wurden sie gebraucht, damit der Schaufenstercharakter der Stadt funktionierte. Der DDR und den kommunistischen Ländern sollte demonstriert werden, welche persönlichen Freiheiten der Kapitalismus ermöglicht. Insofern nutzte die kritische Haltung der Jugendlichen gegenüber Kapitalismus und konformistischem Leben auf lange Sicht vor allem denen, die damit eigentlich kritisiert werden sollten, wie die Wende zeigte.

Aber egal, so weit ist es noch nicht. 1980 ist das Stichwort. Um sich auszuprobieren, braucht es Freiräume. Finanziell ist das Leben der meisten, die nach Berlin kommen, abgesichert. Wer kein Bafög bekommt, findet irgendwo einen Job. Wer keinen findet, kennt zumindest das Lied: „Morgen geh ich zum Sozialamt. Da gibt es Geld.“ Die Situation auf dem Wohnungsmarkt dagegen setzte den noch zu erforschenden Alltagsideen und künstlerischen Ausdrucksformen große Grenzen. Es herrschte allenthalben Wohnungsnot. Aus Spekulationsgründen standen umgekehrt jedoch ganze Straßenzüge leer, vor allem in Kreuzberg. Abgerissen sollten sie werden und mit Neubauten bestückt, den Hausbesitzern winkte Rendite.

Stadtplanerisch jedoch hatte sich gegen Ende der 70er-Jahre die Einsicht durchgesetzt, dass Kahlschlag und Neubebauung und die damit einhergehende Zerstörung gewachsener Strukturen viele soziale Probleme nach sich ziehen. In den Neubauvierteln fiel das Korrektiv, das es in intakten, gewachsenen Kiezen gab, weg. Dort hatten Alte ihre Ansprechpartner, dort war Elend nicht ganz anonymisiert, und Vandalismus wurde nicht unbeobachtet geduldet. Fiel die Nachbarschaft auseinander, blieben die Probleme an Polizei und Verwaltung hängen. Neubebauung schien keine optimale Lösung mehr. Stattdessen wurde gerade in Kreuzberg das Modell der behutsamen Stadterneuerung ins Leben gerufen. Nicht gegen, sondern mit den Leuten sollte saniert werden.

Von mehreren Seiten gab es daher Interessen, dass die leer stehenden Häuser wieder in die Infrastruktur der Kieze zurückgeführt würden: Die jungen Leute auf der Suche nach Selbstverwirklichung brauchten Platz, um ihre Ideen für alternative Wohn- und Arbeitsformen zu verwirklichen. Die Stadtplaner brauchten Leute mit Ideen, die den Platz füllten. Alles wäre demnach ganz einfach gewesen – gäbe es da nicht die Eigentumsfrage. Haus und Boden gehörten jemandem. Die Polizei wurde vorgeschickt, um sie zu verteidigen. Sie taten es, was dem Konflikt förderlich war, mit großer Härte.

Warum sich jedoch so viele Jugendliche mit alternativen Ideen ausprobieren wollten, diese Frage ist unbeantwortet. Eine These: Zu den zeitgeschichtlichen Zäsuren kam, dass der Aufbruch der 68er sich auf mehreren Ebenen verbraucht hatte. ProtagonistInnen der 68er, die es in die Unis, die Medien, die Unternehmen und die Verwaltung geschafft hatten, ließen sich mitunter vom Alltag auffressen oder korrumpieren. Die RAF wiederum scheiterte und mit ihr die Revolution. Die Gesellschaftstheorien, die im Zuge des Aufbruchs entwickelt wurden, die eine gerechte Verteilung von Ressourcen, Mitbestimmung, Toleranz einforderten und gegen das Primat des Profits argumentierten, blieben dennoch gültig. In der Folge entstand so etwas wie ein leerer Raum. Oder: „Alles ist möglich.“

„Wir wollten praktisch werden“, sagt eine ehemalige Aktivistin. „Wir hatten uns in Kapitalismuskursen aufgerieben, wir kannten das Buch vom ‚Club of Rome‘ auswendig, wir haben uns in Brokdorf die Köpfe einschlagen lassen, wir hatten uns feministisch weitergebildet, den Gebärstreik ausprobiert, Rassismus und Patriarchat mitsamt der deutschen Geschichte studiert, aber in unserem Alltag änderte sich nichts. Genau das sollte sich aber ändern.“ In Berlin war der Nährboden gut dafür.

Heute wird gerne gefragt: Was hat die Hausbesetzerbewegung bewirkt? Die Antwort ist einfach: Sie hat den Weg mit dafür bereitet, dass neue, ungewohnte, andere Lebens- und Alltagsentwürfe – sei es in der Familie, in der Erziehung und Bildung, in Gesundheit und Ernährung, in Kultur und Interkultur, in Handwerk und Betrieben, sogar in Politik und Verwaltung – nicht als abwegig gelten, nur weil sie nicht ins tradierte Bild passen. Das ging nicht ohne Verletzungen und Widersprüche vonstatten, aber es hat dazu beigetragen, dass Berlin heute ein weltoffenes, experimentierfreudiges Image hat. Das ist doch sehr viel.