Selbstporträt mit Damen

AUTOBIOGRAFIE Mit sich selbst auf der Couch: Der große Psychoanalytiker Sudhir Kakar über sein Leben zwischen Indien und dem Westen

VON KATHARINA GRANZIN

Man könnte ihn eine schillernde Figur nennen. Oder einen Universalgelehrten. Oder ihn schlicht als sehr vielseitig bezeichnen. Aber all das vermittelt nur eine sehr ungefähre Vorstellung eines Mannes, der seiner Familie zuliebe Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften studiert hat, obwohl er lieber einen künstlerischen Beruf ergriffen hätte, und der anschließend seine Berufung zur Psychoanalyse entdeckte, um dann ein berühmter Analytiker zu werden.

Sudhir Kakar studierte in Deutschland, lehrte in Harvard, praktizierte in Indien, finanzierte sich zeitweise über einen Lehrauftrag an einer renommierten Managementschule, und lebte immer wieder auch außerhalb Indiens. Heute wohnt er mit seiner zweiten Ehefrau, der deutschen Religionswissenschaftlerin Katharina Kakar, mit der zusammen er auch mehrere Bücher veröffentlicht hat, in Goa.

Sudhir Kakar hat im Laufe seines Lebens viele Bücher geschrieben, darunter auch ein paar Romane. Mit seiner nun vorliegenden Autobiografie hat er beide Genres zusammengeführt. Als geschulter Psychologe und Analytiker ist Kakar in der Lage, einen großen Schritt zurückzutreten und sein Leben gleichsam von außen zu betrachten. Als geübter Schriftsteller dagegen ist er überaus geschickt darin, die Klippen allzu großer Offenheit elegant erzählend zu umschiffen und nur das zu offenbaren, was niemandem, auch ihm selbst nicht, weh tun könnte. Das ist natürlich sein gutes Recht – und nicht zuletzt das seiner Nächsten.

Und doch gibt „Die Seele der Anderen“ ein ums andere Mal Anlass, diese Diskretion zu bedauern, die häufig mit großer Gesprächigkeit getarnt wird. Ist es allzu naiv, von der Autobiografie eines Psychoanalytikers mehr selbstkritischen Tief- oder auch Weitblick zu erwarten als von anderen Menschen? Wenn man diese Erwartung mitbringt, so wird sie auch dadurch noch geschürt, dass Kakars Buch in dieser Hinsicht so vielversprechend anfängt.

Erleben und Analyse

Die Schilderungen aus seiner Kindheit, die Porträts von Familienmitgliedern, die vagen Erinnerungen, die der heute 74-Jährige an die gewaltsamen Unruhen während der Teilung Indiens hat, fügen sich zu einem differenzierten Gesamtbild der Umstände, unter denen er heranwuchs. Interessant wird dieses Bild nicht zuletzt dadurch, dass Kakar seine eigenen Erinnerungen mit allgemeinen Ergänzungen zur Soziologie der indischen Familie verknüpft. Was es bedeutet, in einer indischen Großfamilie aufzuwachsen, wie selbstverständlich die ständige körperliche Nähe anderer Menschen, wie allgegenwärtig dabei auch für Kinder die Wahrnehmung von Erotik ist, erläutert Kakar spielerisch nebenbei und skizziert damit auch den thematischen Rahmen, in dem viele seiner Publikationen sich bewegen.

Während also hier der Wissenschaftler in direkter Verbindung zu dem kleinen Jungen steht, dessen frühes Erleben möglicherweise Anlass gab für die fachliche Richtung, die der Erwachsene später einschlägt, ist das Leben des erwachsenen Sudhir schwerer zu fassen. Mangelnde Offenheit lässt sich Kakar dabei allerdings nicht vorwerfen. Erotische Misserfolge verschweigt er ebenso wenig wie gescheiterte Beziehungen, und seine Fähigkeit, die jeweils beteiligten Frauen auch im Nachhinein so positiv wie möglich darzustellen, zeugt von Takt und Einfühlungsvermögen.

Doch die feine Art der Anbindung von persönlichem Erleben an analytisches Interesse, wie sie in den Kindheitsabschnitten zu finden war, ist später fast ganz aus der Darstellung verschwunden. Kakars Briefe an den Vater (als er sich mit diesem über die Wahl seines Studienfachs auseinandersetzen muss) oder an Geliebte (wenn eine Beziehung schiefzulaufen droht) ersetzen die Analyse und lesen sich für Außenstehende eher langatmig. Das Eigenartige dabei ist, dass der Autor selbst diese Briefe offenbar immer noch in seinem Besitz hat. Hat er denn von jedem persönlichen Schreiben eine Kopie für sich selbst angefertigt? Oder hat er sie etwa zum Zwecke der Verfertigung seiner Autobiografie von den AdressatInnen zurückerbeten?

Verhältnismäßig wenig erfährt man auch über seinen fachlichen Werdegang. Wie sein Interesse an der Psychoanalyse aus der Begegnung mit dem Analytiker Erik Erikson erwuchs und wie dieser den jungen Inder, ein Quereinsteiger wie er selbst, großzügig protegierte, kommt zwar ausführlich zur Sprache. Die eigentliche Ausbildung und ihre Inhalte spielen in dieser Autobiografie jedoch kaum eine Rolle. Und Kakars Schilderungen aus seiner therapeutischen Praxis in Delhi sowie seine Erläuterungen, warum viele Konzepte der Psychoanalyse in der indischen Gesellschaft nicht anwendbar sind, sind zwar hochinteressant, fallen jedoch enttäuschend knapp aus.

Der Autor selbst könnte hier mit einigem Recht darauf verweisen, dass er diese Themen ja in seinen fachlich orientierten Büchern ausführlich zur Sprache gebracht habe. Sicherlich; aber so bleibt in seiner Autobiografie eben eine nicht ganz unwichtige Seite des Lebens nur diffus beleuchtet, was den Eindruck hinterlässt, als sei dieses Selbstporträt irgendwie nicht ganz vollständig.

Aber vielleicht ist es Kakar persönlich tatsächlich wichtiger, endlich einmal aufzuschreiben, mit welchen berühmten Leuten er Umgang gepflegt und wie viele tolle Frauen er im Laufe seines Lebens gehabt hat. Auch ein Analytiker ist ja letzten Endes nur ein Mensch.

Sudhir Kakar: „Die Seele der Anderen. Mein Leben zwischen Indien und dem Westen“. Aus dem Englischen von Klaus Modick. C. H. Beck, München 2012, 312 S., 26,95 Euro