Kommentar Russland: Anfälliges System

Noch läuft die Maschinerie der russischen Scheindemokratie wie geschmiert. Doch schon bald könnte es knirschen - weil ein Führungsduo den Alleinherrscher ersetzt.

Zunächst zum Positiven. In Russland fand ein Wachwechsel statt. Putin würdigte die Verfassung und machte einem Nachfolger Platz. In der russischen Herrschaftstradition ist dies nicht selbstverständlich. Allerdings: Thronfolger Medwedjew ist weder ein unabhängiger Kopf noch die Wahl des Souveräns. Die Wähler wurden an die Urnen getrieben wie einst das Volk Ostroms ins Hippodrom, wenn es die Ernennung des Kaisers durch Akklamation zu bestätigen galt. Dieser Schwenker sei erlaubt, denn Moskaus Propagandamühlen beriefen sich vor der Wahl - in Abgrenzung zum Westen - bewusst aufs byzantinische Erbe. Alternativen gab es nicht, es wurde gemauschelt und erpresst.

Doch wären wohl auch freie und faire Wahlen nicht anders ausgegangen, steht das Tandem Putin-Medwedjew doch für Stabilität. Für die wird es in Wirklichkeit nicht garantieren können. Schon die Doppelspitze verrät die Anfälligkeit des Systems und ist eine aus Not und Furcht geborene Konstruktion. Zwar glückte die Machtübergabe, ob auch deren Handhabung funktioniert, ist unklar. Russlands Beamtenschaft verbeugt sich nur vor einem Herrn. Schon jetzt ist das marode obrigkeitsstaatliche Institutionengefüge kaum handlungsfähig und mit Selbstbereicherung hinreichend ausgelastet. Trotzdem demontiert Putin mit der Doppelspitze die von ihm eigenhändig durchgedrückte "Vertikale der Macht". Da muss etwas nicht ganz stabil sein.

Das Wirtschaftswachstum als weiterer Pfeiler stützt sich auf den hohen Ölpreis. Sollte der nachgeben, dürfte auch die Selbstsicherheit des Kreml wanken. Auch Medwedjew wird nichts daran ändern können, dass Russlands Industrie nur auf Rohstoffreichtum aufgebaut ist. Rechtsunsicherheit in (halb)autoritären Staaten steht langfristigem Engagement entgegen. Das System müsste verändert werden. Doch Medwedjew wurde auserkoren, um dies zu verhindern. Zu beneiden ist der Nachrücker daher nicht, denn auch die Inflation nagt schon am bislang stabilen Glauben. Noch drehen sich die Maschinen der Scheindemokratie wie geschmiert. Aber Getriebeschäden treten meist unerwartet auf - alle sollten sich darauf gut vorbereiten.

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Jahrgang 1956, Osteuroparedakteur taz, Korrespondent Moskau und GUS 1990, Studium FU Berlin und Essex/GB Politik, Philosophie, Politische Psychologie.

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