Jesus-Spielen auf der Via Dolorosa: Pilgerswut und Osterwahnsinn

Bibelfanatiker, bayerische Touristen und israelische Soldaten: Auf der Via Dolorosa drängeln sich christliche Pilger, um den Leidensweg Jesu nachzuempfinden.

Karfreitagsprozession auf der Via Dolorosa. Bild: dpa

JERUSALEM taz

Jesus soll die Via Dolorosa zu seiner Kreuzigung gegangen sein. Dabei passierte er 14 Stationen, an denen sich folgendes ereignet haben soll:

1. Station: Jesus wird zum Tod verurteilt

2. Station: Jesus nimmt das Kreuz auf

3. Station: Jesus fällt zum ersten Mal unter der Last des Kreuzes

4. Station: Jesus begegnet seiner Mutter

5. Station: Simon v. Zyrene hilft Jesus das Kreuz tragen

6. Station: Veronika reicht Jesus ihr Schweißtuch

7. Station: Jesus fällt wieder unter der Last des Kreuzes

8. Station: Jesus tröstet die weinenden Frauen

9. Station: Jesus fällt zum dritten Mal

10. Station: Jesus wird entkleidet

11. Station: Jesus wird ans Kreuz genagelt

12. Station: Jesus stirbt am Kreuz

13. Station: Jesu Leichnam wird vom Kreuz genommen

14. Station: Jesu Leichnam wird ins Grab gelegt

Wo im Jahre 30 die Festung "Antonia" stand und auf ihr Pontius Pilatus, den Befehl zur Kreuzigung gebend, da steht heute eine Frau um die 50, graues Haar und Strickrock. Mit ausgebreiteten Armen und gütigem Lächeln geht sie auf Passanten zu, sagt: "Weißt du, Jesus vergibt auch dir!" Eine Antwort erwartet sie nicht, einzig die frohe Kunde zu tun, das ist ihre Berufung. Eine anspruchsvolle Aufgabe, denn schon am frühen Morgen schieben sich die Pilgermassen in der Jerusalemer Altstadt aneinander vorbei, und sie sind alle auf der Suche nach Gott.

Eine Bibelgruppe aus Bayern mit gelben Schirmmützen macht an der zweiten Station der Via Dolorosa vor der Franziskanerkapelle halt. "Hier hat Jesus das Kreuz auf seine Schultern genommen", sagt der Gruppenleiter, Ende 40, grauer Vollbart, kariertes Hemd und Funktionsweste, die Kamera baumelt an der Schulter. Er hat selbst ein Holzkreuz im Arm - für die Hinrichtung eines ausgewachsenen Zimmermanns würde dieses 1,50 Meter lange Exemplar allerdings kaum ausreichen. "In Gedenken an die Leiden Jesu werden wir nun das Kreuz tragen, immer zwei fassen an, jeder kommt mal dran." Die Gruppe stimmt ein lateinisches Kirchenlied an. Zwei dicke Damen drängeln sich nach vorn, packen das Holz und tragen Leidensmienen auf.

An der Ecke Al-Wad-Straße kommt es zur ersten Kollision. Die Bayern prallen mit einer Pilgergruppe aus Polen zusammen. "Hier stürzte Jesus zum ersten Mal", ruft der Leiter blind in die Menge und liest einen Vers aus dem Psalm zur dritten Station des Kreuzweges. Etappenwechsel am Kreuz, zwei junge Mädchen, die aussehen, als verrichteten sie in ihrer Freizeit viel freiwillige Gemeindearbeit, gehen kreuzweise voran. Eine Gruppe Amerikaner durchquert die Menge, von hinten drängen asiatische Nonnen nach, nichts geht mehr auf der Via Dolorosa.

An dieser Kreuzung, wo Jesus seiner Mutter begegnete und Simon von Cyrene, ein nordafrikanischer Jude, beim Kreuztragen aushalf, quetscht sich in den Tagen vor Karfreitag eine Prozession an der anderen vorbei. Ein Hindernislauf wie in einem Arcade-Computerspiel: Man wünscht sich irgendwelche Sprungtasten und Special Moves, um die trägen Massen überwinden zu können. Erschwerend hinzu kommen die arabischen Händler, deren Geschäfte die verwinkelten Gassen der Altstadt säumen und die jeden Passanten in seiner Landessprache zum Souvenirkauf einladen: "Deutschland? Ich war in Landshut!"

In der Osterwoche spektakelt es auf dem Kreuzweg, Gläubige aus aller Welt vereinigen sich, manch eine Prozession treibt es dabei himmlisch auf die Spitze. Hinter einem Pulk Fotografen und israelischen Soldaten geht ein kunstblutüberströmter Jesus in Leinentuch, mit Dornenkranz und aufgeklebtem Bart und leidet, neben ihm seine schwarz verhüllte Mutter. Der Leidensmarsch wird begleitet von sandalenbeschuhten Römersoldaten mit Plastikschwertern und Schutzschilden, die missmutig auf die M16-Maschinengewehre der IDF-Soldaten schielen.

"6. Station Via Dolorosa" prangt in metergroßen Lettern über der Hausnummer 12, wo eine Frau namens Veronika Jesus das Schweißtuch reichte. Dort findet der Pilger jedoch weder Kapelle noch Meditationsstätte vor, dort hat ein geschäftstüchtiger Araber einfach seinen Souvenirladen ausgeschildert. Halbzeit bei den polnischen Christen, sie lassen sich von Nabil, einem Palästinenser aus Ramallah, orthodoxe Ikonenbildchen zeigen. Er präsentiert ihnen Kisten mit Kruzifixen, außerdem Bauchtanzkostüme und Palästinensertücher in allen Farben und je nach Bedarf auch die jüdische Kopfbedeckung, die Kippa. Außerdem T-Shirts, die Smileys mit Schläfenlocken zeigen.

Die singenden Bayern mit dem Kreuz haben überholt, ignorieren die "Grüß Gott"-Rufe der Verkäufer vor ihren Regalen mit Holzflöten und preiswerten Damenschuhen. Vor der siebten und achten Station, Via Dolorosa Ecke Suq Khan ez-Zeit machen sie halt. Der Gruppenleiter erklärt, dass hier Jesus von Nazareth zum zweiten Mal gestürzt sei und dann die weinenden Frauen tröstete. Die Pilger kämpfen sich weiter durchs Labyrinth, durchqueren hustend eine Wolke aus Weihrauch, die den Sauerstoff vernichtet wie Schädlingsbekämpfungsmittel. Das Innerste des Labyrinths ist erreicht. Schemenhaft, einer Fata Morgana gleich, zeichnet sich der Umriss der Grabkirche ab. Hier ballen sich die Pilgerstätten - Kreuzwegstationen neun bis vierzehn. Denn, so steht es in der Bibel geschrieben, Jesus fiel auf diesem Hügel zum dritten Mal unter dem Kreuz und wurde dann seiner Kleider beraubt und ans Kreuz geschlagen. Der bayrische Reiseleiter zitiert aus dem Lukas-Evangelium: "Dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den andern links. Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen, den sie wissen nicht, was sie tun."

Auf dem Hügel Golgatha steht heute eine prunkvolle römisch-katholische Kirche, die nicht nur den Katholiken, sondern noch fünf weiteren Abspaltungen des Urchristentums angehört: der griechisch-orthodoxen, der armenisch-apostolischen, der syrisch-orthodoxen, der äthiopischen und der koptischen Kirche. Hinter dem Eingang drängen sich Omnes Gentes, alle auch nur irgend möglichen Völker, anscheinend gibt es Christen auch im letzten Winkel der Erde. Sie alle berühren gleichermaßen ehrfürchtig den Salbungsstein, auf dem der Leichnam Jesu vor etwa 1978 Jahren möglicherweise mit Myrrhe und Aloe balsamiert und in Leinentücher gewickelt wurde. Russische Pilger halten ihre erworbenen Heiligtümer, Plastikrosenkränze und Miniikonen, an den Stein, um sie "aufzuladen", als wäre er eine große Batterie. Eine Frau namens Birgit aus der Bayerngruppe streichelt wie abwesend über den Stein, wirft sich auf den kalten Boden davor und betet "Vater unser im Himmel".

Die bayrischen Pilger haben das Kreuz wieder an den Kreuzverleiher abgegeben, drei arabische Jungs schleppen es den Schmerzensweg zurück. Für das Finale heißt es nun ausharren, die Schlange vor dem Grab Jesu ist lang in diesen Ostertagen. Es riecht nach modrigen Steinen, zwei Meter hohe Plastikkerzen werfen fahles Licht auf die Grabstätte. Ein Priester hält die Messe und predigt Lateinisches, die Menge betet mehrsprachig. Vor dem Grab steht ein heiliger Türsteher in vollem Ornat, wie vor einem Nightclub. Der Pater gewährt nur Einlass, wenn er es für richtig hält - und er vergibt VIP-Privilegien. Eine italienisch-deutsche Gruppe von Elitepilgern kommt in den Genuss dieser Vorrechte und wird im Fast Track an den gequälten Massen vorbeigeschleust, Männer in Anzügen und Damen mit Kopftüchern aus schwarzer Spitze, in Begleitung einiger Mönche in braunen Kutten.

Es macht sich Unmut breit unter den bayrischen Pilgern. "Zweiklassenreligion", beschwert sich einer. Der Reiseleiter stimmt ein Lied an, seine Jünger fallen krächzend ein. Eine letzte Bibelstunde, Jesus jetzt am Kreuz, der Leiter inzwischen heiser, liest: "Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Andächtiger Blick gen Kirchendach, von hinten schieben schon die Christen aus Polen, dann endlich Einlass, immer fünf Leute. "See tomb, go out!", befiehlt der Wächter knapp, "Grab sehen, rausgehen", und zwar schnell, die Bayern auf Adrenalin, der Gipfel naht. "Das ist ein echtes Stück aus dem Originalfelsen von Golgatha", schafft der Leiter noch zu erklären, bis er mit anderen in die Höhle hineingeschoben wird, wobei sich einige am niedrigen Eingang den Kopf stoßen. Drinnen, wo vor knapp zweitausend Jahren vielleicht das Grab Christi war, stehen Kerzen im Glas auf einer Marmorplatte, hängt ein Marienbild an der Wand. Der Türsteher drängelt. Hektik in der klaustrophobischen Enge der Ruhestätte. Zwei raumfüllende Damen bekreuzigen sich rückwärtsgehend mit feuchten Augen - der Heilige Geist ist auch über sie gekommen. Auch eines der Gemeindearbeitsmädchen hatte seine himmlische Eingebung. "Oh mein Gott", haucht es, bekreuzigt sich, faltet die Hände zum Gebet und ist nicht mehr ansprechbar. Manch einen ereilt in den heiligen Stätten eine noch höhere Form der Erleuchtung. "Jerusalem-Syndrom" nennen es die Ärzte, wenn ein Pilger plötzlich glaubt, er sei einer der Propheten.

"Das waren die 14 Stationen der Via Dolorosa", sagt der Reiseleiter zu seinen Bayern draußen vor der Kirche, einige erleuchtet, andere eher erleichtert. Er erzählt noch von der Auferstehung Jesu Christi, aber nur die Kurzfassung. Denn die Gruppe hat Hunger. Eine der fülligen Damen verlangt nach "Kirchererbsenbrei" - gemeint ist Hummus. Die Gruppe wird durchgezählt, 13 Personen, da fehlt doch wer - die Birgit, die betet noch immer am Salbungsstein. Auf dem Weg ins arabische Restaurant steckt ein Herr mit Kopfbedeckung und weißer Galabiya dem Reiseleiter eine Broschüre zu mit dem Titel "Nur eine Botschaft". Darin findet er eine Anleitung für das Konvertieren zum Islam - in zehn Schritten.

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