Alltag in Südafghanistan: Die tägliche Tracht Prügel

Wegen vier Musikkassetten steckten die Taliban Mirwais ins Gefängnis - das war vor acht Jahren. Jetzt kämpft er als Soldat im Süden - gegen Drogen, Gewalt und Unrecht.

Sieht nur so friedlich aus: Drogenanbau in Südafghanistan. Bild: dpa

Die Sonne kriecht über die Berge des Choratals, als Sergeant Mirwais zur Feier des Tages einem Schaf die Kehle durchschneidet. Es ist Freitag, ein Tag, der im Gebet verbracht werden soll, nicht mit Kämpfen. Keine Patrouille, einfach nur Ruhe. Aber es kommt wieder mal anders.

Vor dem Gipfel der 26 Nato-Staaten in Bukarest hat sich die Debatte um eine Beteiligung deutscher Soldaten im Süden Afghanistans entschärft. George W. Bush rückte von dieser Forderung ab. "Ich will Entscheidungen, die unsere Partner tragen können", sagte der Präsiden in Bezug auf Deutschland.

Beim Gipfel geht es vor allem um die Aufnahme neuer osteuropäischer Staaten. Albanien, Kroatien und Mazedonien könnten dem Militärbündnis beitreten. Umstritten ist eine konkrete Beitrittsperspektive für Georgien und die Ukraine, auf die vor allem die USA und einige osteuropäische Staaten drängen.

Sergeant Mirwais soll hier nur mit Vornamen genannt werden. Seine Identität muss geheim bleiben, denn er hat einen der gefährlichsten Berufe im neuen Afghanistan. Mirwais ist Soldat. Einer, der mit der afghanischen Regierung, mit den Amerikanern oder Koalitionstruppen zusammenarbeitet, gilt schnell als Verräter. Als Todgeweihter.

"Siehst du die Narben?", fragt er. In schwachen Momenten, blickt er auf diese Male. Sie erinnern ihn daran, wie Afghanistan einmal war - "und nie wieder sein darf".

Das Jahr sechs im Krieg gegen den Terrorismus. Ein Krieg, der nicht nur die Extremisten vertreiben, sondern auch Recht und Ordnung in ein Land bringen soll, dessen Strukturen und Werte in 30 Jahren Krieg aus den Köpfen seiner Bewohner gebombt wurden.

Große Teile Afghanistans dämmern noch immer in einem anderen Zeitalter. Manche schimpfen: Steinzeit, Mittelalter. Die Menschen hausen in qualas, den fensterlosen Lehmgehöften. Die Analphabetenrate liegt bei über 90 Prozent. Jedes fünfte Kind wird nicht einmal fünf Jahre alt. Es gibt kaum Schulen oder Krankenhäuser. Trinkwasser kommt aus Bächen. Nichts erinnert an Fortschritt, nur die Waffen sind modern.

Sie kommen über die Berge, auf geheimen Schmugglerpfaden, versteckt in Lkws und Eselskarren. Kaum ein Haushalt, der keinen Mohn anbaut und keine Kalaschnikow im Schrank hat. Opium sichert das Überleben. So sieht es aus in den Provinzen des südlichen Afghanistans.

In diesem Paralleluniversum zur zivilisierten Welt kämpfen die Truppen der afghanischen Armee und Soldaten der Nato-Länder, die sich zutrauen, eine Region aus der Steinzeit ins 21. Jahrhundert zu katapultieren. Gar eine Demokratie nach westlichem Muster zu schaffen, mit einer funktionierenden Justiz, Gesetzen, Bildung. Das braucht Zeit an Orten, an denen sich menschliche Bomben per Express zu ihrem Gott sprengen. Jahrzehnte.

Acht Jahre ist es her, dass die Religionspolizei der Taliban Mirwais auf einem Markt in seiner Heimatstadt Kandahar verhaftete. Routinedurchsuchung. Unter seinem Turban fanden sie vier Musikkassetten, pakistanische und indische Popmusik. Streng verboten. Was Sünde war, entschieden die Taliban - und sie tun es in diesem Teil Afghanistans bis heute.

Vier Kassetten, vier Monate Haft, lautete das Urteil der Mullahs. Außerdem war der Bart zu kurz. Einen Monat zusätzlich. Und damit Mirwais solch ein Verbrechen nicht wieder begeht, setzte es hundert Stockschläge auf die Handflächen. Fünfzig links, fünfzig rechts. Jeden Nachmittag um vier. Fünf Monate lang. "Allah ist gnädig, die Taliban waren es nicht", sagt er, versucht ein Grinsen und schafft nur eine Grimasse.

Es musste ein besseres Leben geben, als das, das er kannte, dachte Mirwais im Gefängnis. Als er erfährt, dass die Taliban vertrieben sind, beschließt er, in die Armee einzutreten. Mirwais ist beliebt bei seinen Soldaten. Sie respektieren ihn, weil er zur Schule gegangen ist, und sie mögen ihn, weil er anständig zu ihnen ist. Bald soll er zum Leutnant befördert werden.

Er erzählt von seinen Kameraden, die er krepieren sah. Er führte die Patrouille an - elf Männer gerieten in einen Taliban-Hinterhalt, neun kehrten nicht zurück. Oder die Geschichte von dem Sechsjährigen, den die Taliban zwangen, sich vor einem Militärkonvoi in die Luft zu sprengen. Der Bub traute sich nicht, wollte nicht sterben. Er bat afghanische Polizisten um Hilfe. Mirwais hat ihm geholfen.

"Sieh dich um", sagt er, "hier leben sie wie im Mittelalter. Die paar Kliniken kannst du vergessen." Immerhin, das Leben ist in den vergangenen Jahren etwas besser geworden, "zumindest in einigen Teilen Afghanistans". Der Norden ist relativ friedlich, in Kabul pulsiert das Leben, und Mädchen dürfen zur Schule gehen. Das ist doch schon was, lässt hoffen.

Schluss mit dem Gewäsch von gestern! "Jetzt ist jetzt und heute ist ein Tag zum Feiern." Der Duft von gekochtem Lammfleisch zieht durch das Lager. Mirwais klatscht in die Hände, ruft einige Worte auf Paschtu. Sechs Männer rennen aus einem Zelt herbei, werfen sich in ihre schusssicheren Westen, nehmen ihre Gewehre und springen auf einen Geländewagen. "Wir müssen zum Markt, Trinkwasser holen."

Wenige Minuten später kommen sie zurück, ohne Wasser, aber mit einem jungen Mann auf der Ladefläche. Neben ihm ein schmächtiger Junge, vielleicht 14 Jahre alt. Zitternd und ängstlich. Sechs afghanischen Soldaten ziehen den Älteren vom Wagen, sie beginnen mit Fäusten auf ihn einzudreschen, bis er bewusstlos am Boden liegt. Ein holländischer Nato-Soldat eilt hinzu. Er versucht, die wütenden Afghanen zu beruhigen. "So behandelt man doch keinen Gefangenen." Keine Chance.

"Dieser Junge ist viermal vergewaltigt worden, von dem da!", schreit Mirwais ihn an, er zeigt auf den Bewusstlosen. Einer schlägt vor, dem Mann ins Bein zu schießen. "Dann wird er so etwas nie wieder machen." Diesmal kann der Holländer sich durchsetzen, der Verdächtige wird in einen Container geworfen, der als Gefängnis herhält.

"Diese Tat wäre unter den Taliban nicht geschehen", sagt Mirwais. Dass muss man ihnen lassen, "immerhin haben sie für Ruhe und Ordnung gesorgt." Recht und Ordnung? Eigentlich ein Fall für die Polizei, doch die ist in Chora so gut wie unsichtbar. Bei einem Gehalt von 60 Dollar - falls es ausbezahlt wird -, in einer Gegend, wo es von Taliban wimmelt. Vor einigen Tagen wurde einem Polizisten, der während seiner Wache an einem Kontrollposten eingenickt war, der Kopf abgeschnitten.

Rechtsprechung? Schwierig in einer Gegend, die als eine der korruptesten Afghanistans gilt und wo Verrat das Überleben sichert. Im Frühling blühen kilometerweit die Mohnfelder. Das alte System ist kaputt, das neue hat keiner verstanden. Wer heute dein Feind ist, ist morgen dein Freund. Veränderung braucht Zeit. Im ländlichen Afghanistan gibt es das Phänomen des "Chai Boys", erzählt Mirwais. Das sind Teejungen, die reichen Geschäftsleuten, Polizisten, Kommandeuren, Politikern, Drogenbaronen im Haushalt oder bei der Arbeit behilflich ist; Tee kochen, Botengänge erledigen. Ein Mädchen für alles. Oft auch für "besondere Dienste". Im Klartext: Viele halten sich Liebesdiener. Es heißt, der Gefangene sei der "Chai Boy" des Bürgermeisters, einer der mächtigsten Männer Choras. "Die Polizei wird sich hüten, die Nase in seine Angelegenheiten zu stecken."

"Das ist nicht unser Problem", sagt Sergeant Mirwais. "Das sollen andere regeln." Dann wird der Gefangene zu der Polizeistation am Ende der Straße geführt. Gerüchten zufolge wurde das Urteil schnell gesprochen: zwei Monate Kerker - mit einer täglichen Tracht Prügel. Konfliktlösung auf Afghanisch. Alltag.

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