IG-Metall-Chef Huber über zivilisierten Kapitalismus: "Sonst haben wir die Rebellion"

IG-Metall-Chef Berthold Huber fordert eine Sparkasse für Überstunden, spricht über die Zukunft seiner Gewerkschaft und erklärt, warum er in manchen Tarifrunden zum Feministen werden kann.

Skeptisch mit Hang zur Hoffnung, so beschreibt Huber sich selbst. Bild: dpa

taz: Herr Huber, wir nehmen mal an, Sie arbeiten gerne als IG-Metall-Vorsitzender.

Berthold Huber: Wie schmeichelhaft.

Sie sind für die Rente mit 65 Jahren. Was tun Sie, wenn Sie selbst in Rente gehen?

Meine Vorstellung von einem guten Leben hat mit Arbeit und Gestalten zu tun. Ich will mich dann frei entscheiden können, weiter zu lernen, mich in Verbänden oder Sozialinstitutionen zu engagieren, also: zu arbeiten.

Die Bundesbank hat kürzlich eine Lebensarbeitszeit bis 68,5 vorgeschlagen. Wie sehen Sie diese immer wiederkehrenden Debatten?

Mich wundert erst einmal einiges. Zum Beispiel, wie der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog über Menschen herzieht, die nach einer 45-jährigen Erwerbsbiografie nur ein gutes, anständiges Leben führen wollen, mehr nicht.

Es ist also richtig, die Renten zu erhöhen?

Natürlich. Entschuldigung, manche Politiker und Medien erwecken den Eindruck, hunderttausende Florida-Rolfs wollten sich Luxusurlaube auf den Malediven erschleichen. Das sind doch gezielte Irreführungen. Die wahre Herausforderung liegt wirklich woanders.

Nämlich wo?

Schon bald wird die Mehrheit der Rentner keine lebenslange Erwerbsbiografie mehr vorweisen können. Für viele Frauen ist das so. Da muss die Politik andere Antworten finden als die Verschiebung des Rentenalters nach hinten. Pro Woche 40 Stunden oder 42 Stunden, ein Leben lang bis 67 oder 68,5 Jahre. Auf solche Ideen kommt jeder Dummkopf. Wer so Politik macht, der hat Ideologien im Kopf, aber Menschen nicht im Blick. Die Politik muss zum Beispiel die Vereinbarkeit von Familie und Beruf neu organisieren. Und es den Menschen ermöglichen, beides so zu kombinieren, dass es produktiv für die Ökonomie und für die Gesellschaft ist.

Weiß denn die IG Metall Antworten? In Betrieben der Metall- und Elektroindustrie arbeiten gerade einmal rund 21 Prozent Frauen - und die sind hauptsächlich in der Verwaltung tätig.

Stimmt, wir müssen reagieren. Ich bin sicher: Beide Branchen haben nur eine Zukunft, wenn sie um die Frauen werben, auch angesichts der demografischen Entwicklung. Die Metall- und Elektroindustrie muss sich den Kopf zerbrechen, nicht nur in technischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Leider sind die Unternehmer oftmals schrecklich konservativ.

Wie macht man Jobs attraktiv für Frauen?

Indem Sie ihnen zum Beispiel garantieren, dass sie nicht verstoßen werden, wenn sie Kinder kriegen. Es muss doch selbstverständlich sein, dass Männer und Frauen nach der Elternzeit die Arbeitszeit reduzieren können. Wenn ich in Tarifrunden sitze, könnte ich manchmal zum Feministen werden: Die Arbeitgeber denken immer noch, das entscheiden sie alleine.

Sind die Frauen nicht selbst schuld? Den Satz "Ich will Metallarbeiterin werden" hört man eher selten.

Natürlich herrschen bei vielen noch klassische Auffassungen vor. Die Meinung, gewerbliche Arbeit sei eher eine Männerangelegenheit, wird schon früh vermittelt, das fängt im Kindergarten an.

Und dass Frauen eben ungern Bleche biegen, ist nur ein Klischee?

Es entspricht nicht mehr der Realität. Ich habe neulich einen Werkzeugbaubetrieb in Ingolstadt besucht. Die Arbeitsplätze sind hochtechnisiert, ergonomisch, nicht mehr schmutzig, das ist wunderbare Feinstarbeit mit hohen Freiheitsgraden.

Die IG Metall ist für Facharbeiter, die an der Werkbank stehen, ebenso zuständig wie für IT-Entwickler. Bei den neuen Berufen bleibt der Organisationsgrad seit Jahren niedrig. Warum?

Die historische Herkunftsbranche der IG Metall ist der Maschinenbau. In der Nachkriegszeit haben wir den Fokus sehr stark auf die getaktete, die zerstückelte Arbeit gelegt und waren der Meinung, dies würde alles umfassen.

Seit den Achtzigerjahren ist der Anteil der qualifizierten Berufe stark gestiegen. Die IG Metall hat geschlafen.

Wir haben in Berufen, etwa bei Entwicklern oder Ingenieuren, starken Nachholbedarf. Wir dürfen uns nicht nur auf unsere traditionellen Mitgliedergruppen orientieren, sondern müssen uns neuen Berufsgruppen öffnen. Wenn die IG Metall dies nicht tut, überlebt sie nicht.

Wie kann das gehen? Die Lebenswelten des Entwicklers und des Schichtarbeiters liegen weit auseinander.

Richtig. Ein Entwicklungsingenieur arbeitet ohne Probleme zehn Stunden am Stück, wenn es das Projekt erfordert. Für den Schichtarbeiter am Hochofen sind sieben Stunden gerade noch verkraftbar. Aber auch der Entwickler braucht nach den zehn Stunden die Gewissheit, Luft holen zu dürfen, sich Familie und Kindern widmen zu können. Angesichts der steigenden Taktzeiten und der Leistungsverdichtung müssen wir neue, differenzierte Modelle anbieten.

Zum Beispiel?

Für Angestellte der IT-Branche ist etwa wichtig, dass sie Ansprüche, etwa Überstunden, die sie erworben haben, mitnehmen können, wenn sie den Betrieb wechseln. In der Regel haben die alle hohe Arbeitszeiten, nicht de jure, aber de facto. Wir brauchen so etwas wie eine Zeitagentur in Deutschland. Eine übergreifende Institution, die die Zeit, die ich einbringe, erfasst - wie eine Sparkasse für Überstunden. Wenn ich nur 20 Stunden die Woche arbeiten möchte, weil ich Zeit für mein kleines Kind brauche, rufe ich sie wieder ab. Oder ich sammle Zeit und gehe drei Jahre früher in Rente. Oder allgemeiner formuliert: Wir wollen, dass die betriebliche Flexibilität auch bei den Beschäftigten zu individueller Verfügbarkeit über ihre Zeit führt.

Wer soll das zahlen? Keine IT-Firma ist so dumm, einen Angestellten mit riesigem Zeitkonto zu übernehmen.

Deswegen spreche ich ja von einer Zeitagentur. Im Übrigen: Viele Menschen arbeiten mehr, als sie laut Tarifvertrag müssten, ohne Geld oder einen Ausgleich dafür zu bekommen. Das ist Betrug. Warum soll man akzeptieren, das sich Unternehmen diese Arbeit ohne Gegenleistung aneignen? Natürlich braucht es Rechte, um solche Ansprüche durchzusetzen, dafür ist der Gesetzgeber zuständig. Ohne Lösungen wie eine Zeitagentur bleibt das Gerede von mehr Familienfreundlichkeit leer.

Sie hoffen also auf die Politik. Schon wieder.

Für diesen Satz wird man mich vielleicht prügeln: Die großen Fragen - Wer bleibt arm, wer wird reich? Wie schaffe ich eine gerechte Verteilung? - sind durch bloße Tarifpolitik nicht lösbar.

Leben Gewerkschaften nicht genau von dieser Illusion?

Ach was. Natürlich kann sich die IG Metall trunken reden an den Milliarden, die sie bewegt durch einen Tarifabschluss. Aber wenn ich alle volkswirtschaftlichen Größen betrachte, ist das small. Beautiful but small.

Sie sind also im Grunde machtlos?

Es ist doch so: Ich kann mit einem Tarifvertrag nicht die Aldi-Brüder enteignen. Die Verteilungsfrage lässt sich nur mit Steuerpolitik beantworten. Indem die Politik entscheidet, eine faire Beteiligung der Leute durchzusetzen und die historisch gewachsenen Vermögensunterschiede zu mildern. Und nicht die mittleren Gruppen, etwa die Facharbeiter, belastet ohne Ende - denn sie sind das Rückgrat unseres Steuer- und Sozialsystems.

Sie kritisieren gerne den rücksichtslosen Kapitalismus. Wodurch ist er gekennzeichnet?

Seit Mitte der Neunzigerjahre sind wir mit einem neuen, profitgetriebenen Kapitalismus konfrontiert, althergebrachte Regeln der sozialen Marktwirtschaft sind außer Kraft gesetzt. Wir dürfen ihre Errungenschaften nicht opfern, sondern wir müssen den neuen Kapitalismus zivilisieren.

Da sind wir sofort dabei. Verraten Sie uns, wie!

Indem die Frage der Mitbestimmung handfest gemacht wird - dies ist der entscheidende Punkt unserer Gewerkschaftspolitik. Eine starke Mitbestimmung kann eine gleichberechtigte Kontrahentin gegenüber den Interessen des Kapitals sein.

Konkret bitte: Derzeit streiten Sie mit Volkswagen über das VW-Gesetz.

Das VW-Gesetz garantiert den Beschäftigten und der öffentlichen Hand starke Mitspracherechte, so dass sie etwa Verlagerungen blockieren können. Ein solches Gesetz ist in Deutschland die Ausnahme - dabei ist es ein erstrebenswertes Ideal. Die Ideen des VW-Gesetzes müssen auf andere Konzerne und Branchen übertragen werden, sie schützen Arbeitnehmerrechte gegen kurzfristiges Renditedenken.

Eine Festung Deutschland in der globalen Ökonomie?

In den letzten 15 bis 20 Jahren haben sich die Gewichte zugunsten der Kapitalseite und zulasten der demokratischen Politik und der Beschäftigten verlagert. Kapitalismus hat nur eine Zukunft, wenn er akzeptiert, dass ein anonymes Management nicht über die Köpfe der Leute entscheiden kann. Sonst haben wir irgendwann die Rebellion.

Herr Huber, sind Sie eigentlich ein Optimist?

Nein. Ich bin ein skeptischer Mensch - mit dem Hang zur Hoffnung. Optimismus ist in Schwaben, wo ich herkomme, ein Fremdwort. Zugegeben, es ist noch nicht klar, wie soziale Marktwirtschaft in einer globalen Ökonomie mit all ihren Konkurrenzzwängen funktionieren kann. Aber man muss dem Herdentrieb - Geld regiert die Welt - nicht folgen.

Sie verdammen Nokia für eine Werksschließung in Deutschland, gleichzeitig bekommen dadurch rumänische Arbeiter gute Jobs. Warum gratulieren Sie denen nicht?

Erstens bin ich nicht Mitglied der Deutschen Bischofskonferenz.

Und zweitens?

Ein Unternehmen muss den Opfern Antworten geben. Und zwar vor einem Wegzug oder einer Schließung. Das Nokia-Management hat die Betriebsschließung in Bochum klammheimlich vorbereitet. Der Konzernvorstand hat den Beschäftigten nicht die Pistole auf die Brust gesetzt - er hat gleich geschossen. Die Mitbestimmung, das Mitreden der Beschäftigten ist kein Pflaster, das erst durch Druck von außen aufgeklebt wird, sondern elementarer Bestandteil der Verabredung zwischen Arbeitern und Management. Dieses Prinzip wird ständig verletzt, nicht nur bei Nokia.

Und die Arbeiter in Rumänien?

Die müssen sich eines klar machen: Die Firmen ziehen auch morgen weiter, wenn man ihnen keine Grenzen setzt.

Sie waren mit 28 Jahren Betriebsrat beim Fahrzeugbauer Kässbohrer. Wenn Sie heute mit Betriebsräten reden - was machen die, was Sie damals noch nicht ahnten?

Früher sagten wir, die Betriebswirtschaft geht uns nichts an, das ist Sache der Kapitalisten. Heute können wir den Weltmarkt, die Konkurrenz, die Schnelllebigkeit von Renditezwängen nicht ausblenden, wenn wir eine gute Zukunft haben wollen. Und die schwärmerische Sicherheit, dass die Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung am Ende recht gibt, ist spätestens durch den Zusammenbruch des Sozialismus endgültig verschwunden.

Müssen Betriebsräte von heute Co-Manager sein?

Dieses Wort würde ich nicht verwenden. Betriebsräte müssen eigene Vorstellungen haben, wie ihr Unternehmen gut aufgestellt ist, und dafür sind auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse nötig.

2004 beschloss die IG Metall das Pforzheimer Abkommen. Seitdem darf zum Beispiel in einem Betrieb länger gearbeitet werden, wenn er in einer Krise ist.

Durch das Pforzheimer Abkommen rücken wir näher an die Betriebe heran. IG Metaller verhandeln jetzt flexibler. Abweichungen vom Tarifvertrag sind erlaubt, allerdings befristet, mit definierten Gegenleistungen, wie zum Beispiel Sicherheit für Jobs und Investitionszusagen. In besseren Zeiten müssen die Betriebe wieder zum Flächentarifvertrag zurückkehren: Dies hat dazu beigetragen, dass unsere Betriebsräte auf Augenhöhe verhandeln, sie sind keine Anhängsel des Managements. Und darum geht es. Um Mitbestimmung auf Augenhöhe.

Warum?

Die Haltedauer von Aktien bei den DAX-Unternehmen hat sich dramatisch reduziert. Aktionäre können jederzeit ein anonymes Papier verkaufen, je nach Kurs. Die Belegschaft ist viel stärker als die Shareholder am Gedeihen des Unternehmens interessiert - ihr Arbeitsplatz hängt daran. Betriebsräte bringen also Kompetenz in der nachhaltigen Entwicklung ein. Weil sie von Menschen gewählt wurden, die nicht jeden Tag wie Nomadenvölker durch die Welt ziehen können.

Ihrer Gewerkschaft haben Sie "kritischen Pragmatismus" verordnet. Was heißt das?

Ganz einfach: Ich stehe nicht zur Verfügung für alle Verrücktheiten und Utopien dieser Welt. Ich stehe für eine linke, pragmatische Politik mit Realitätsbezug, die die Menschen mit ihren verschiedenen Lebensumständen und Bedürfnissen ernst nimmt.

Pragmatismus hat im Deutschen die Konnotation, man gebe nicht allzu viel auf Ideale.

Deshalb habe ich ja das "kritisch" vorausgestellt - darunter tut es ja der deutsche Mensch nicht. Kritischer Pragmatismus heißt, wir müssen aufgreifen, was die Leute bewegt - und dürfen nicht nur Forderungen verkünden, die wir mit Organisationsmacht durchsetzen.

Wo reden Sie mit den normalen Menschen?

Im Zug zum Beispiel. Mich sprechen viele Leute an, weil sie mich auf Fotos gesehen haben. Und wenn ich mich dann nach einem Gespräch verabschiede, höre ich oft: "So haben wir uns Gewerkschaft nicht vorgestellt." Sie haben einfach kein dialogisches Bild von uns. Deshalb ist dies so wichtig: Gewerkschaft muss zuhören können.

INTERVIEW ULRICH SCHULTE UND THILO KNOTT

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