Michel Piccoli wird zum Tier

Hippen empfiehlt In „Themroc“ von Claude Farlado erblüht das Leben zu einer animalischen Anarchie. Der Kultfilm der 70er wird im Kino 46 gezeigt

So aufs anarchistische Ganze wie Claude Farlando ist danach wohl kaum noch ein Regisseur gegangen, und Piccoli war als der im doppelten Sinne reine Triebmensch der subversive Superman

Von Wilfried Hippen

Würde sich heute noch ein Filmemacher trauen, am Spieß brutzelndes Polizistenfleisch zu zeigen? Lars von Trier vielleicht, aber der arbeitet sich ja nur noch an seiner klinischen Depression ab. In den 90er Jahren machte immerhin Christoph Schlingensief mit „Das deutsche Kettensägenmassaker“ einen ähnlich „gewollt geschmacklosen und gewalttätigen Film, der mit dem Holzhammer daherkommt“ (so der katholische Filmdienst), aber der war auch schon ein blasses Abziehbildchen von „Themroc“. Nein, so aufs anarchistische Ganze wie Claude Farlando ist danach wohl kaum noch ein Regisseur in einem künstlerisch unbestreitbar wertvollen Film gegangen. In den frühen 70er Jahren waren solche Tabubrüche im Kunstkino allerdings üblich. Die Auszeichnung für den Skandalfilm des Jahres 1972 bekam nicht etwa „Themroc“, sondern Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“, und ein Jahr später schlemmte sich Michel Piccoli in „Das große Fressen“ von Marco Ferreri buchstäblich zu Tode. Vorher wurde er aber zum Kannibalen, der nachts für seine Ursippe auf die Pirsch nach uniformierter Beute ging, und das wohlige Gruseln dieser Szenen machte „Themroc“ damals zu einem der beliebtesten Kultfilme in Studentenkreisen.

Denn da war endlich ein Proletarier, der so aufbegehrte, wie man sich es erträumte, wenn man morgens vor den Werktoren Flugblätter verteilte und damit bei den Arbeitern der Frühschicht seltsamerweise keinerlei revolutionäres Bewusstsein weckte. Zum Beginn des Films steht auch dieser namenlos bleibende Arbeiter um sechs Uhr morgens auf, fährt wie immer mit dem Fahrrad in die Fabrik und führt dort einen absurden Job als Anstreicher aus. Diese Arbeitswelt ist ein absurdes Theaterstück, bei dem ein uniformierter Sisyphos nacheinander Hunderte Bleistifte spitzt, nach getaner Arbeit systematisch alle Spitzen abbricht und wieder von vorne beginnt.

Auf diese Tretmühle reagiert der Held zuerst mit Husten, dann Grunzen, dann Schreien. Er wird vor unseren Augen zum animalischen Triebmenschen, der seine Wohnung zuerst zumauert, dann die Außenwände auf hämmert und all seine kleinbürgerlichen Besitztümer vom ersten Stock in den Innenhof wirft. Schnell wird seine kleine Schwester zu seiner Geliebten, dann folgt die Nachbarin, deren verklemmter Gatte dann auch zögerlich den Hammer schwingt. Schon ist in dem Pariser Arbeiterviertel eine anarchistisch, animalische Urzelle entstanden, und bald ertönen Schreie und Hammerschläge in der ganzen Stadt.

Die Polizei ist machtlos, denn gegen Tränengas sind die Anarchimalischen immun, ja sie schnüffeln sogar genießerisch an den rauchenden Granaten. Dies hat damals, als jeder gestandene Student seine Tränengastaufe durchlitten hatte, natürlich wie eine reine Wunscherfüllung gewirkt – und Piccoli als der im doppelten Sinne des Wortes reine Triebmensch in der repressiven Gesellschaft war der subversive Superman.

Heute sieht man „Themroc“ natürlich mit ganz anderen Augen. Die Provokationen wirken antiquiert und kaum einer wird sich noch für seine doch eher naive politische Botschaft begeistern können. So kann man ihn nun nicht als Kult, sondern als Film bewerten und dabei fällt auf, wie viel Faraldo ausgerechnet dem vordergründig so liebenswerten Jacques Tati schuldet. Die Idee eines Films ohne Dialoge, in dem auf der Tonspur nur durch Grummeln, Stöhnen, Lachen, Schreien, Seufzen und wenn unbedingt nötig in einer unverständlichen Kunstsprache kommuniziert wird, hatte Tati schon für sein „Schützenfest“, und der sehr körperliche und slapstickartige Humor kommt auch direkt aus dieser Quelle. Ähnlich unvergesslich wie das Polizistenmahl bleibt der im Grunde ja ganz harmlose Gag mit Piccolis Kollegen, der sich bei der frühmorgendlichen Fahrt in die Fabrik immer schlaftrunken an seinen fahrenden Freund anlehnt und ohne diesen wunderschön vom Fahrrad fällt. Der Film ist voller solcher genau beobachteter und mit dem Timing eines guten Komödianten inszenierter Lacher. In einer Szene am Beginn des Films imitiert Piccoli sogar so präzise Tatis schlackernde Beinarbeit, dass man von einem Zitat sprechen muss.

„Themroc“ ist also nicht nur aus nostalgischen Gründen auch heute noch sehenswert, und mit seiner Wackelkamera, dem quasi-dokumentarischen Stil, dem Fehlen von Filmmusik und der Einheit von Raum und Zeit (die winzigen Rückblenden vergessen wir mal) entspricht er verblüffend genau dem Reinheitsgebot der Dogma-Filme. Vielleicht dreht ja Lars von Trier doch noch ein Remake.