Nach dem Erdbeben in Sichuan: Ungewohnte Solidarität

150.000 Soldaten sind im Einsatz, um nach Überlebenden zu suchen. Und weil selbst die besten Krankenhäuser kostenlose Hilfe anbieten, sind die Chinesen ihrer Regierung plötzlich dankbar.

Bergungstrupps in Sichuan: Das Militär als Freund und Helfer. Bild: dpa

CHENGDU taz Vor dem Westchina-Krankenhaus in Chengdu steht Ma Jianfang, eine zierliche 36-jährige Bäuerin in brauner Jacke, in der Hand eine rote Nelke. Verloren schaut sie auf den Wirbel um sie herum: Acht Krankenwagen sind mit Sirenengeheul gleichzeitig vorgefahren. Dutzende Helfer laufen mit Tragen herbei, transportieren die Verletzten in die Notaufnahme.

Sechs Tage nach dem Erdbeben ist die Zahl der Todesopfer offiziellen Angaben zufolge auf 32.477 gestiegen, 220.000 Menschen wurden verletzt, 122.000 Personen müssen in Krankenhäusern und Feldlazaretten ärztlich behandelt werden.

Nach Angaben aus Regierungskreisen gelten die Atomeinrichtungen im Erdbebengebiet als "sicher und kontrollierbar". In dem schwer betroffenen Gebiet von Mianyang und Guangyuan unweit des Epizentrums liegt das wichtigste chinesische Entwicklungszentrum für Atomwaffen.

Bei einem deutsch-chinesischen Benefizkonzert in der südwestchinesischen Metropole Chongqing sind am Samstag mindestens 110 Millionen Yuan, umgerechnet 10 Millionen Euro, für die Erdbebenhilfe gesammelt worden. Zu den Spenden gehören auch die von der Bundesregierung zugesagten 1,5 Millionen Euro.

"Mein Junge ist hier", sagt Ma. Sie weist mit einer vagen Geste auf das Gebäude. Ihr 14-jähriger Sohn gehört zu den Kindern, die Glück im Unglück hatten, nachdem das große Erdbeben letzten Montag die Provinz Sichuan erschütterte. Als auch seine Schule in der Stadt Deyang zusammenbrach, überlebte er, während über 7.000 Schüler und Kindergartenkinder begraben wurden.

Nun liegt Mas Junge mit einer Kopfverletzung und gebrochenem Arm in der Provinzhauptstadt, im größten Krankenhaus Chinas - mit der Aussicht auf die bestmögliche Versorgung, die man sich denken kann.

Das Westchina-Krankenhaus ist mit insgesamt 4.300 Betten berühmt für seine Chirurgen, die hier unter anderem Lebern transplantieren. Erst vor kurzem ist eine Gruppe Mediziner aus dem deutschen Heidenheim zurückgekehrt, wo sie an einem internationalen Seminar über Wundversorgung teilnahmen. In gewöhnlichen Zeiten sind solche Top-Kliniken für arme Bauern wie Ma unerschwinglich.

Aber die Zeiten sind nicht normal: Nach der Katastrophe haben die Behörden entschieden, dass alle Geretteten sofort und ohne Ansehen der Person medizinisch versorgt werden. "Wir nehmen keinen Cent", sagt Liao Zhilin von der Presseabteilung des Hospitals. "Wir garantieren, dass jeder so lange wie nötig behandelt wird. Wir übernehmen die Kosten für das Essen und geben den Patienten einen Satz neuer Kleider, wenn sie entlassen werden." Das klingt wie ein Wunder in einem Land, dessen Bewohner nichts so sehr fürchten, wie krank zu werden, weil sie sich die Arztkosten nicht leisten können.

Die kostenlose Hilfe ist einer der Gründe, warum so viele Chinesen in diesen ersten Tagen nach dem Beben ein ungewohntes Gefühl der Solidarität spüren und ihrer Regierung dankbar sind. "Ihr seid zu Hause angekommen", heißt es auf einem Transparent über dem Klinikeingang. Ein Stück weiter, politisch ebenso korrekt wie unvermeidlich, hängt dann ein zweites: "Unter der Führung von Partei und Zentralregierung", werde die Katastrophe "entschieden bekämpft".

Rund 1.000 der Erdbebenopfer sind im Westchina-Krankenhaus eingeliefert worden. Draußen drängen sich Angehörige und Freunde vor den Listen mit Namen und Orten, aus denen die Verletzten geborgen wurden, und hoffen, ihre Lieben zu finden. Manche Patienten kamen direkt aus den zerstörten Gebieten hierher, andere aus kleineren Kliniken der Umgebung, die für schwere Verletzungen nicht ausgerüstet sind.

Auch Frau Ma steht draußen, leise, bescheiden, verloren. Immer wieder erzählt sie, wie der Boden bebte und wie der Sohn ausgegraben wurde. "Ich habe seit Tagen nicht geschlafen und nichts gegessen", sagt sie.

Wie Ma geht es Millionen Opfern. Viele von ihnen besitzen nur noch die Kleider, die sie auf dem Leibe tragen. Etwa 4,8 Millionen Menschen haben nach bisherigen Schätzungen kein Dach mehr über dem Kopf. 15 Millionen Häuser wurden beschädigt.

Der Zug der Flüchtlinge reißt so nicht ab. Die Behörden stehen vor einer schier unlösbaren Aufgabe: die Menschen unterzubringen, die bisher in Stadien, Zelten oder unter Plastikplanen Unterschlupf gefunden haben.

Opfer des Erdbebens, die alles verloren haben, sollen in den nächsten drei Monaten täglich eine Lebensmittelration und 10 Yuan (etwa 1 Euro) erhalten, hat die Regierung versprochen. Container-Unterkünfte, so wie sie auf vielen Baustellen Chinas für die Arbeiter stehen, sollen schon bald für die Obdachlosen bereitgestellt werden, ebenso Toiletten, provisorische Kliniken und Klassenzimmer.

Chinesische Waisenhäuser und Familien aus dem ganzen Land haben angeboten, Waisenkinder aus den Erdbebengebieten aufzunehmen beziehungsweise zu adoptieren - eines von vielen Zeichen der Großzügigkeit, die China in den letzten Tagen erlebte. Doch die Not ist überwältigend. Ganze Dörfer müssen wohl umgesiedelt werden, ganze Städte neu aufgebaut.

Nachbeben - zuletzt mit einer Stärke von 6 am Samstag und 5,7 am frühen Sonntagmorgen - ließen wieder Hänge abrutschen, begruben erneut Straßen. Die Erdlawinen haben an mehreren Orten künstliche Seen geschaffen, in denen das Wasser schnell steigt und die ohnehin schon zerstörte Ortschaften zu überschwemmen drohen.

Herzzerreißende Szenen spielten sich am Samstag in der völlig zerstörten Stadt Beichuan ab, als alle Rettungsarbeiten aus Furcht vor einer Flutwelle abgebrochen wurden und verzweifelte Bewohner sich weigerten, ihre verschütteten Angehörigen zu verlassen: Erschöpfte Helfer packten schließlich Mütter, die sich wehrten und schrien, und trugen sie fort. Zu groß war das Risiko, dass der Damm aus Erde und Geröll, der den Jianjiang- Fluss nach dem Abrutschen eines Hangs gestaut hatte, brechen könnte.

Obwohl die Hoffnung, Überlebende zu bergen, mit jeder Minute sinkt, gibt es immer wieder erstaunliche Berichte von Geretteten: So soll gestern in Beichuan ein Mann nach 139 Stunden aus den Ruinen des örtlichen Krankenhauses geborgen worden sein - mit nur "leichten Prellungen", wie es heißt. 150.000 Soldaten sind in der Region - bei der größten Hilfsaktion aller Zeiten. An ihrer Seite suchen mehr als 200 Retter aus Japan, Russland, Singapur, Taiwan und Südkorea nach Verschütteten.

Als die Dunkelheit in Chengdu einbricht, steht Ma Jianfang immer noch vor der Tür des Westchina-Krankenhauses. "Ich weiß nicht, wohin, ich weiß nicht, was ich machen soll", sagt sie.

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