DER VERFASSUNGSBRUCH IST KEINE KATASTROPHE, ABER VERMEIDBAR
: Defizit akzeptieren und mehr investieren

Die große Koalition beginnt mit einem Bruch der Verfassung. Das ist nicht schön, auch wenn Angela Merkel das Eingeständnis schelmisch als Ehrlichkeit und Notwendigkeit verbrämt. Um nicht heute das Vermögen zu verbrauchen, das die nächste Generation morgen benötigt, sollen die neuen Staatsschulden niemals die Investitionen in die Zukunft übersteigen – so heißt es in Artikel 115 des Grundgesetzes. Für 2006 fühlen sich Union und SPD daran nicht gebunden.

Der Verstoß ist kein Anlass zur Panik. Der Grundgesetz-Artikel 115 ist kein zentraler, mit dem der Geist der Verfassung wirkt oder stirbt. Die Ausflucht bietet dieser Artikel ja gleich selbst mit an: Man darf ihn umgehen zur „Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“. Und was sonst erleben wir, wenn nicht einen Zustand ökonomischen Ungleichgewichts? Auch im kommenden Jahr wird die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze abnehmen und die Wirtschaft nahe der Stagnation dahinschleichen. Folglich wachsen die Defizite in den öffentlichen Kassen und Sozialsystemen.

Trotzdem hätte die kommende schwarze-rote Regierung den Verfassungsbruch vermeiden können. Sie will die Basis für den nächsten Wirtschaftsaufschwung legen und setzt doch nur bei den staatlichen Haushalten an – mit dem primären Ziel, das Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen. Möglich erscheint aber auch eine andere Variante: Das Defizit akzeptieren und gleichzeitig mehr investieren. Was spricht dagegen, sich an die 70 Milliarden Subventionen und Finanzhilfen heranzuwagen, die in den öffentlichen Haushalten der Bundesrepublik verborgen sind? Jede Milliarde, die man dort streicht, ließe sich umschichten zu Investitionen in Schulen, Forschungseinrichtungen und Bahnnetze.

Die Löcher in den Kassen würden dadurch einstweilen nicht gestopft. Immerhin bestünde aber die Aussicht, dass in drei oder vier Jahren die wirtschaftliche Erholung tatsächlich einsetzt. Mit dem Stabilitätspakt von Maastricht wäre diese Strategie allerdings nicht vereinbar. Die neue Regierung müsste bereit sein, einen Konflikt mit der Europäischen Kommission zu riskieren. HANNES KOCH