Tschechiens Abschied vom Offensivspiel: Das Primat der Defensive

Abwehrchef Tomas Ujfalusi steht für den schleichenden Paradigmenwechsel in der tschechischen Mannschaft. Die Zeit der großen Fußballkunst ist vorbei.

Bringt Schweizer zur Verzweiflung: Tomas Ujfalusi (r) beim Blocken. Bild: ap

SEELFELD taz In der Schweiz ist Tomas Ujfalusi mittlerweile so etwas wie ein Symbol der Ungerechtigkeit. Im Gegensatz zu den anderen Blättern des Landes wählte die führende Boulevardzeitung Blick am Montag nicht den weinenden Alexander Frei für den Titel. Stattdessen wurde das Bild des Balles, der im Eröffnungsspiel gegen Ujfalusis Hand sprang, gedruckt. Das Gesicht des Tschechen ist zu einer wilden Grimasse verzerrt, und darunter steht die Zeile "Hände weg von unserem Pokal". Ujfalusi verkörpert den allgegenwärtigen Widerstand, den die Schweizer auf dem Weg zur Erfüllung ihres Traumes empfinden. Da haben sie den Richtigen ausgewählt.

Denn der Abwehrchef ist der neue Kopf der Mannschaft. Er vertritt den verletzten Tomas Rosicky als Kapitän und er repräsentiert einen schleichenden Paradigmenwechsel, der sich im tschechischen Team während der vergangenen beiden Jahre vollzogen hat. "2004 hatten wir eine überragende Mannschaft und haben vielleicht den besten Fußball in Europa gespielt", sagt der 31-Jährige. "Jetzt fehlen uns drei, vier Spieler aus dieser Mannschaft, und wir müssen uns in diesem Turnier auf die Abwehr konzentrieren." Und so spielen die Tschechen jetzt.

Die Freunde des permanenten Ballbesitzes, der offensiven Fußballkunst, zu der sich eigentlich auch Trainer Karel Brückner immer bekannte, trauern dem verblassten Mythos nach. Aber Ujfalusi genießt das neue Primat der Defensive. Er ist jetzt der Chef, seine Spielweise prägt die Mannschaft, seine Anweisungen sind den Mitspielern Gebot.

Brückner mag immer noch nicht so recht zugeben, dass diese Abkehr von der alten tschechischen Kombinationslust tatsächlich vollzogen wurde. "Wir spielen nicht anders als vorher", sagt er störrisch. Doch wer die Tschechen im Eröffnungsspiel gesehen hat, kann das kaum glauben. Und wer Ujfalusi zuhört, erst recht nicht. Der frühere Hamburger sagt Sätze wie: "In einem Turnier darf man nichts riskieren." Oder: "Wir wollen hier immer ohne Gegentor bleiben." Gegenüber Fußballern wie dem zurückgetretenen Pavel Nedved oder Rosicky behält man solche Dinge besser für sich, aber die heutige Mittelfeldachse um Jan Polak, David Jarolim und Tomas Galasek ist empfänglich für diese Philosophie der Vorsicht.

Sie wissen, dass sie nicht mehr über die rasend schnellen Einzelkönner des modernen Fußballs verfügen, die mit ihren Dribblings Abwehrreihen von außen aufreißen können. Auch ein virtuoser Passspieler im Zentrum fehlt. Deshalb überlassen sie den Ball gerne dem Gegner und hoffen auf den richtigen Moment, um das Spielgerät zu klauen. Es ist die Strategie der weniger Begabten, als solcher galt auch Ujfalusi lange im tschechischen Künstlerkollektiv.

Als der Verteidiger im zweiten Gruppenspiel bei der WM 2006 gegen Ghana nach einer Notbremse vom Platz flog, war sein Ruf als Mann fürs Grobe endgültig zementiert. "Das war der bitterste Moment in meiner Karriere und ein ganz bitterer Moment für Tschechien", hat er einmal gesagt. An diesem Tag starb die goldene Generation um den ungekrönten König Pavel Nedved.

Dass das neue Tschechien, das so denkt wie Ujfalusi, mehr zu erreichen vermag als die Künstler der Jahre zwischen 2002 und 2006, das glaubt aber kaum jemand in Tschechien. Auch Ujfalusi nicht. "Wir wollen jetzt ins Viertelfinale kommen", sagt er vorsichtig, ein Unentschieden am heutigen Abend gegen Portugal könnte dazu schon reichen. Und dann würde im Viertelfinale mit Deutschland eventuell ein alter EM-Rivale warten.

Das wäre "typisch", findet Ujfalusi, schließlich haben die EM-Duelle mit den Deutschen eine gewisse Tradition. Unvergessen ist der größte Erfolg des nationalen Fußballs, der Finalsieg gegen die BRD 1976 (damals noch als CSSR). Auch in der Qualifikationsgruppe fürs laufende Turnier landeten die Tschechen vor Deutschland, und 2004 warfen sie Rudi Völlers Vizeweltmeister aus dem Wettbewerb. Die jüngere Statistik spricht also für die Tschechen. Aber jetzt muss sich das Bollwerk erst mal mit der Kunst des Cristiano Ronaldo messen. DANIEL THEWELEIT

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