Ein Tor für die Cousine

DENKWÜRDIGE PARTIEN Im Jahr 1982 siegt Eintracht Braunschweig gegen Bayern München, und auf der Tribüne verliert die Liebe

Das sah echt klasse aus, wie Cousine Christine lief, gar nicht wie ein Mädchen

Das Spiel war ausverkauft. Alle wollten Bayern sehen, vor allem aber wollten alle sie bluten sehen. Mein Bruder hatte früh genug drei Karten besorgt, für sich, mich und seine Freundin Manuela. Ménage-à-trois? Gibt meistens Streit, das weiß man ja. Aber in diesem Fall war alles ganz unbedenklich. Mein Bruder fuhr einen schwarzen Golf GTI mit Rally-Felgen, war also das, was man seit ehedem auf den Dörfern im Regierungsbezirk Braunschweig eine gute Partie nennt, und zudem sieben Jahre älter als ich. Ich sah keine Sonne gegen ihn. Aber an diesem denkwürdigen 15. Oktober 1982 wuchsen dem Fußballgott auf einmal zwei verteufelt krumme Bockshörner.

„Manu“ hatte sich nämlich wegen Unpässlichkeit abgemeldet. Stattdessen sollte ihre gerade volljährig gewordene Cousine Christine einspringen. „Cousine Christine“, wie das klang?! Ich hatte mich bereits verliebt in die Frau. Wir fuhren vor, mein Bruder hupte dreimal, jetzt hörte ich, dass er auch seine Hupe getunt hatte, und Christine kam prompt aus dem Haus gelaufen. Das sah echt klasse aus, wie sie lief, gar nicht wie ein Mädchen.

Christine hatte nicht nur den Eintracht-Schal umhängen, sondern schien sich wirklich ernsthaft zu fragen, ob Ronnie Worm nach seiner fast zweimonatigen Verletzungspause schon wieder „hundert Prozent“ abliefern könne. Und wen man auf Kalle Rummenigge „ansetzen“ würde. Während mein Bruder diverse Details ergänzte – „Tripbacher schaltet Rummenigge aus, ich sag’s euch, der schaltet den nicht nur aus, der schaltet den regelrecht ab“ –, nickte ich nur und tat so, als wäre dieser Quatsch irgendwie von Belang.

Wir nahmen einen weiten Anmarsch auf uns, weil mein Bruder seinen GTI nicht auf dem Stadionparkplatz stehen lassen wollte. „Sportwagen haben die auf dem Kieker!“ Er spendierte noch eine Rutsche Bier und Jägermeister, und so gestärkt drängelten wir uns in die schon ziemlich vollgestellte Gegengerade hinein. 31.000 Zuschauer hatte der Stadionsprecher gerade gezählt. Volle Hütte!

Vorstopper Bruns, Libero Hollmann und Pferde-Franz standen gut. Rummenigge bekam tatsächlich keinen Stich gegen Tripbacher. Und Ronnie „der ist wieder voll da!“ Worm schoss sich nach zwanzig Minuten ein bisschen warm. Plötzlich kam Stimmung auf. Flanke von Merkhoffer. „Gestrecktes Beiiiiiiiin“, schrie Christine. Es gab Freistoß an der Strafraumgrenze. Und dann streichelte Geiger den Ball sanft mit der Sohle, Ronnie Worm zog ab, genau in die Lücke, die Rummenigge bei seinem „Frühstart“ in der Mauer hinterlassen hatte, und wie eine erschreckte Forelle zappelte das Leder im Netz, offenbar war da nichts zu halten für den naturkrausen Jean-Marie Pfaff. Wir drei lagen uns in den Armen. Pures, unverschnittenes Glück explodierte in meinem Gehirnkasten, als sie mir um den Hals fiel, sich an mich schmiegte. Viel länger als bei meinem Bruder. Meine Jugend sprach eindeutig für mich an diesem Wochenende.

In der Pause kroch ein langer blau-gelber Lindwurm aus dem Stadion, um sich mit Erfrischungen zu versorgen. Wir einigten uns darauf, bis zum Wiederanpfiff zu warten. „Antizyklisch saufen“ nannte das mein Bruder. Die zweite Hälfte begann dann aber gleich mit so viel Elan, dass wir es prompt vergaßen. Hier wurde jeder gebraucht, denn Paul Breitner und Kalle Del’Haye drehten auf. Der Ausgleichstreffer schien nur ein Frage der Zeit. Breitner riss das Spiel förmlich an sich, war ein ewiger Unruheherd im vorderen Mittelfeld, verteilte die Bälle und schoss aus allen Lagen, aber er traf nicht das Tor. Auch seine Kombattanten scheiterten an Bernie Franke, der heute Morgen aufgestanden war mit dem erklärten Ziel, Bayern München zu demoralisieren. Und was sich ein Mann wie er einmal in den Kopf setzte …

Es war noch eine Viertelstunde zu spielen, da wandte sich mein Bruder lachend an mich. „Die Bayern sind zu blöde, die schießen heute keins mehr. Außerdem habe ich Brand.“

Ich war dran, drängelte mich durch die Reihen, hüpfte die Treppe hinunter zum nächsten Bierstand, aber es dauerte ein bisschen, weil das Schankpersonal nicht vorgezapft hatte. Plötzlich ein Aufschrei, dann gebremster Jubel. Irgendwas musste passiert sein oder passierte immer noch. Ich verstaute die Flachmänner, schnappte mir die Becher und rannte los. Auf halber Treppe brandete mir animalisches Siegesgebrüll entgegen, das nur eins heißen konnte.

„Was denn?“, schrie ich den erstbesten Ordner an. „Handelfmeter. Hollmann hat’n reinjemacht, links oben.“

Als ich endlich wieder am Platz war, um mit den beiden anzustoßen, bemerkten sie mich nicht sofort. Christine und Bruderherz waren viel zu sehr beschäftigt. Augenscheinlich hatten sie sich im Zuge des neuerlichen Torjubels prompt ineinander verliebt, anders ließ sich das schlechterdings nicht deuten, was meine leidenden Augen da zu sehen bekamen.

Einer unserer Stehplatznachbarn bemerkte meinen ungläubigen Blick. „Genau, mach mal was, ich kann mich schon gar nicht mehr aufs Spiel konzentrieren.“

Zwei zu null. Für meinen Bruder. FRANK SCHÄFER