Kinderbetreuung in Kreuzberg: Der Ausverkauf der Kinderläden

Der "Aladdin" in Berlin-Kreuzberg ist eine Institution im Kiez. Doch der Betreuungsstätte droht das Ende: In wenigen Tagen läuft die Förderung des Landes aus. Die Leiterin sucht händeringend neue Partner.

Der orientalische Märchenheld Aladdin besaß eine Wunderlampe, deren Geist ihm drei Wünsche gewährte. Dem Kreuzberger Schülerladen, der nach der Märchenfigur benannt ist, würde ein einziger genügen: Einen neuen Träger würden sich die Mitarbeiter wünschen. Denn die Finanzierung der Betreuungsstätte, die bisher vollständig vom Senat getragen wird, endet am 31. Juli. Aus hundert Prozent werden null. Der Laden steht vor dem Aus.

Für die Leiterin Monika Heinritzi-Svesnikov, eine kleine Frau mit fröhlichem Lachen, wäre das Ende des Aladdins bitter. "Es ist Teil meiner Lebensgeschichte", sagt die ausgebildete Walldorf-Lehrerin. Seit der Gründung 1987 arbeitet sie hier in der Eisenbahnstraße. Inzwischen ist der Schülerladen eine Institution im Kiez. "Bei uns läuft viel über Mundpropaganda", erzählt sie.

Eine arabischstämmige Familie etwa hat über die vergangenen 15 Jahre alle ihre acht Kinder hierher geschickt. Viele der Ehemaligen wohnen noch in der Nähe und kommen zu Besuch, um zu Hochzeiten einzuladen oder vom eigenen Nachwuchs zu erzählen. Im Vergleich mit der großen Institution Schule sei gerade für Migranten die Hemmschwelle niedrig, den Laden aufzusuchen, sagen die Mitarbeiter.

Der hohe Raum ist in einem freundlichen Gelb gestrichen, der Boden mit roten Teppichfliesen belegt, die von hunderten Kinderschuhen schon etwas mitgenommen sind. Über dem niedrigen Gruppentisch hängt eine Girlande aus verschrumpelten Kastanien. Hinten geht es in die Küche, in der Erzieher Ayhan Kirkpinar Stullen für die Kinder vorbereitet.

Die stammen aus türkischen, arabischen, serbischen und deutschen Familien. Rund 20 suchen den Schülerladen jeden Nachmittag auf, um die Hausaufgabenhilfe und den Förderunterricht zu nutzen, Theater zu spielen und zu basteln, zu lesen oder auf der Parzelle im nahe gelegenen interkulturellen Garten Erdbeeren, Kräuter und Tomaten anzubauen. "Für die ist hier nachmittags ihr Wohnzimmer", sagt Praktikantin Maria Koimtzoglu. Auf ihren linken Unterarm ist ein krakeliges Segelschiff tätowiert. Ein Junge aus dem Schülerladen hat die Vorlage dafür gezeichnet.

Das drohende Ende des Aladdin ist nicht etwa einer mangelnden Qualität des Projekts geschuldet, vor allem ist es kein Einzelfall. Vielmehr ist es Folge der Senatspolitik, Schule und Nachmittagsbetreuung stärker miteinander zu verzahnen. Unter anderem, weil es seit 2003 Bundesmittel für den Ausbau der Ganztagsschulen gibt, beschloss der rot-rote Senat, die Nachmittagsbetreuung vollständig unter die Regie der Schulen zu stellen. Die sind nun die alleinigen Empfänger der entsprechenden Gelder; eine vom Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden (Daks) ausgehandelte Übergangsregelung läuft aus. Die Schülerläden, die vormals ihre Mittel vom Bezirksamt erhielten, können jetzt nur noch durch Kooperationen mit einer Schule überleben.

Da liegt allerdings der Hase im Pfeffer. "Die Schulen bevorzugen es eben nicht, mit kleinteiligen Strukturen zusammenzuarbeiten", sagt Hildegard Hofmann vom Daks. Die Umstellung des Finanzierungssystems bedeute für viele kleine Schülerläden den Tod; allein in Kreuzberg habe bereits ein Drittel der einst 90 Schülerläden dichtgemacht. "Eine fatale Entwicklung", findet Hofmann. Bernhard Kempf, der Sprecher von Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD), hingegen gibt zu bedenken, dass auch einige Schülerläden nicht gerade als kooperativ gälten.

Wem auch immer der schwarze Peter zuzuschieben ist, eins dürfte wenig strittig sein: In der familiären Struktur des Schülerladens können Kinder besser als in großen Hortgruppen individuell gefördert, ihre Gestaltungsvorschläge wahrgenommen und es kann das geleistet werden, was gesellschaftlich geboten ist: Integrationsarbeit.

Im Aladdin schlagen besonders Kirkpinars interkulturelle Kenntnisse mancher türkischen Familie eine Brücke zum deutschen Umfeld. Haben die Familien Probleme, besucht er sie zu Hause, hilft bei Behördengängen, schlichtet Streit und bringt auch mal Kinder zum Arzt, deren Mütter außer zum Einkaufen die Wohnung nicht verlassen. Außerdem diene er als alternatives Rollenbild, meint Heinritzi-Svesnikov: "Viele der Kinder kommen aus traditionellen Familien. In Ayhan erleben sie, dass ein Türke auch anders sein kann." Der wiegelt ab: Er sei ja bei Weitem nicht der einzige Türke mit Pferdeschwanz.

Gegen 15 Uhr kommen während der Schulzeit die ersten Kinder in den Laden und machen sich über die belegten Brote und Kohlrabischnitze her. "Ich stell mich gleich vor", ruft ein Mädchen beim Kauen herüber. "Moment bitte, ich muss aufessen." Ivana berichtet von einem Englischtest - gar nicht so schlimm sei der gewesen. Auch Ezgi erzählt, wie sich ihre Noten verbessert haben, seit sie in den Schülerladen geht. "Ich hatte früher immer Fünfen und Vieren, jetzt hab ich Zweien und Dreien." Am besten gefällt ihr aber, dass sie hier einen netten Umgang miteinander lernen und sich gegenseitig ausreden lassen. "Wir sind eine richtige Familie geworden", sagt die Zwölfjährige.

Seit anderthalb Wochen läuft jetzt im Aladdin das Ferienangebot: Schwimmausflüge an Berliner Seen, Eis essen und Fahrradtouren stehen auf dem Programm. Ab kommendem Montag sind drei Wochen Sommerpause.

Der Schulleiter der Reinhardswald-Grundschule in der Gneisenaustraße, Werner Munk, hat sich die Verdrängung dieser dezentralen pädagogischen Kultur nicht gefallen lassen. "Ich wollte so was Bewährtes einfach nicht aufs Spiel setzen", erklärt er. Gegen heftige Widerstände des damals SPD-regierten Bezirks habe seine Schule einen Kooperationsverbund mit elf Schülerläden gegründet. Gemeinsam mit den Eltern wurde ein Weg zur Finanzierung gefunden.

So steht es den Reinhardswald-Schülern heute frei, zu entscheiden, ob sie nachmittags die schulische Betreuung oder die kleineren Schülerläden in Anspruch nehmen wollen. "Es funktioniert ganz prima", erzählt Munk. Schulen aus ganz Deutschland würden sich bei ihm nach diesem bundesweit einzigartigen Projekt erkundigen. Auch auf Seiten des Kooperationsverbunds ist man von der intensivierten Zusammenarbeit angetan: "Sich mehr mit der Schule zu vernetzen, war absolut produktiv", sagt Verbundssprecherin Marie Böckel.

An der "tollen alternativen Betreuungsform" Schülerladen schätzt Munk die familiäre Struktur, den besseren Personalschlüssel. Die Betreuung im gebundenen Betrieb an der Schule, in der Kinder von morgens bis teilweise 18 Uhr abends in derselben Gruppe zusammen blieben, sei nicht die Sache jedes Kinds: "Das kann für viele Kinder Kasernierung bedeuten."

Ob den Kindern aus dem Aladdin Ähnliches bevorsteht, ist noch nicht endgültig ausgemacht. Seit einem Jahr sucht Leiterin Heinritzi-Svesnikov nach alternativen Trägern, schreibt Stiftungen und Verbände an. Immerhin zwei Stiftungen haben bereits Zusagen gemacht, doch über die Höhe der Förderung wird erst im September entschieden. "Ich denke, das nächste Jahr kriegen wir irgendwie gebacken", sagt sie und ringt sich ein Lächeln ab.

Die Kinder jedenfalls wollen ein Aus ihres zweiten Zuhauses nicht hinnehmen. Sollte der Schülerladen keine neuen Finanzquellen auftun, werden sie nicht auf ein Wunder warten. Sondern Geld sammeln, wie die zehnjährige Özge mit bestimmtem Ausdruck klarstellt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.