Ein Hauch von New York

Seit 20 Jahren lebt Renate Goldmann in Marzahn-Hellersdorf. In einem Jugendzentrum hat sie nun eine Anlaufstelle für Homosexuelle gegründet. Wie viele in dem Bezirk leben, weiß niemand. Eine Ortsbegehung

Goldmann ist ein Scout. Sie erkundet den Bezirk, um ihn zu verstehen

von WALTRAUD SCHWAB

„Marzahn ist nicht Berlin. Es gehört nur dazu“, meint Renate Goldmann. Sie wird es wissen, denn sie lebt dort. Im zweiten Stock eines der „Twins“. So nennt die New-York-Begeisterte die beiden grauen 20-Geschosser hinter dem neuen Einkaufszentrum am S-Bahnhof Marzahn. Twin Towers – bonjour Tristesse.

„In Marzahn ist die Normalität das Besondere“, meint Goldmann. Irgendwann wird sie wegziehen von hier. „Näher in die Stadt.“ Vorerst aber bleibt sie. „Diese Ambivalenz“, sagt sie und bricht ab. Welche? Dass der Bezirk ihr zur Heimat geworden ist, obwohl sie ihn nicht nur liebt?

Wer mit Goldmann redet, begreift schnell, dass sie Sätze meist nicht zu Ende spricht. Stattdessen fährt sie mit Fremden lieber in den 20. Stock. Von dort ist der Blick frei. Nach Osten breiten sich die Plattenbauten wie ein Labyrinth aus. Vor dem westlichen Horizont dagegen zeichnet sich der Fernsehturm als Berlin-Matrix im Dunst ab. Alles andere ist Alltag. Goldmann fährt mit der Hand dem Verlauf der S-Bahn-Gleise nach, die sich wie eine Narbe durch die Landschaft schlängeln. Dann zeigt sie auf einen überdimensionierten Betonklotz, ein Kino mit Disco und Bowlingbahn direkt unterhalb des Hochhauses. „Dieser Kasten versperrt mir im zweiten Stock die Sicht.“ Daneben ist ein riesiges Zelt. „Oktoberfest“, sagt Goldmann. Und: „Ich war noch nie dort.“

Die Mutter zweier erwachsener Kinder hat anderes zu tun. Vor nicht allzu langer Zeit hat die Mittvierzigerin mit ein paar jungen Männern, die halb so alt sind wie sie, ein Büro eröffnet, eine Anlaufstelle für Homosexuelle in Marzahn-Hellersdorf. „OstEnde“ heißt der Verein. Das Büro liegt in einem Jugendzentrum an der Landsberger Allee – nicht weit von jenem Haus am östlichen Ende Berlins, das heute ein Denkmal ist, da es 1945 als erstes von der russischen Armee befreit wurde. „Befreit“, sagt Goldmann und „fco budjet – alles wird“. Sie ist in Mecklenburg geboren, Russisch war eins ihrer Lieblingsfächer. Das sind alte Geschichten.

Und heute? Was ist mit „OstEnde“, dem östlichen Ende Berlins in der Gegenwart? Immerhin versteckt sich darin die Neuigkeit, deretwegen der Bezirk nun Schlagzeilen machen will. Gefragt, wo denn die Homosexuellen in Marzahn und Hellersdorf seien, antwortet Goldmann: „Das wüsste ich auch gern.“ Aber es sei zwecklos, nach ihnen zu suchen. Warum dann ein Büro? „Um eine Spur zu legen“, sagt sie. „Und wegen der Ambivalenz.“ Welcher? „Dazugehören zu wollen – und es doch nicht zu können.“ Das wirft sie zurück auf die Normalität. In der geht es darum, den Bezirk erst einmal zu erkunden, um ihn später, viel später, vielleicht zu verstehen. Goldmann ist der Scout.

Die Ökonomin, die seit dem Tod ihres Vaters gern mit Hut aus dem Haus geht, hat einen Plan, wie sie Marzahn zeigen will. An der S-Bahn-Station Springpfuhl geht’s los. Gleich dahinter, am Helene-Weigel-Platz, liege die Wiege der Plattenbauvorstadt. Als sie geplant wurde, sei es noch um den besseren Staat gegangen. Nicht nur an Behausungen wurde gedacht – dem Menschen sollte was geboten werden: Jugendclub, Schwimmhalle, Kaufhalle, Poliklinik, Clubgaststätte mit Kegelbahn, Rathaus, Kino – alles noch da. Im Prinzip jedenfalls. Dazwischen der Springpfuhl mit Fröschequaken, Vogelgezwitscher und einfacher Romantik.

Heute stehen auf dem Platz ein paar Marktstände. Billige Polyesterblusen, Socken und Schlafanzüge werden feilgeboten. Dazu Currywurst und Brandenburger Äpfel, die Fernweh im Namen tragen: Grafensteiner, Pinova, Ontario. Im Jugendclub direkt neben dem ersten Elfgeschosser, meint Goldmann, hätte OstEnde, ihr Verein, bis zum Frühjahr Partys organisiert. „Es hat sich nicht gerechnet.“ Mit den Verführungen der Vorstadt müsse man anders umgehen. Wie? Das weiß sie noch nicht.

Trotzdem: Sie mag die Patina, die sich auf die Häuser rund um den Platz gelegt hat. Darunter das damals neu gebaute Marzahner Rathaus, in dem das Bezirksparlament seit der Zusammenlegung mit Hellersdorf nicht mehr tagt. Der Brunnen davor wirkt, als wäre er schon seit einer Ewigkeit abgestellt. Verloren stehen das bronzene Motorrad, der in einer dynamischen Pose eingefrorene athletische Kerl und das Vater-Mutter-Kind-Arrangement auf sonst vom Wasser umspielten Sockel.

Goldmann, die seit mehr als 20 Jahren in Marzahn lebt, kennt noch den Stolz auf das ehemals errungene Sozialistische und die dazu passende Sprache. Gleichzeitig spürt sie dem desolaten Flair nach, den das alles nun hat. „Siehst du das Ambivalente daran?“, fragt sie. Weil sie keine Antwort erwartet, zeigt sie auf das Sojus, das alte Plattenbaukino. Halbaktuelles werde hier gezeigt. Für 1 Euro 50 kann sie mit Verspätung die Filme sehen, die sie verpasst hat, als sie in den großen Kinos in Berlin liefen.

Hinterm Sojus liegt die Allee der Kosmonauten. Dass sich der Stadtteil von hier aus in beschleunigter Manier darbietet, ist schon am Straßennamen erkennbar. Mit der Tram wird an vielstöckigen Häuserzeilen vorbeigefahren, die wie Dominosteine hintereinander gebaut sind. Kippte eins, fielen die anderen mit um. Derweil stehen sie. Nur die Bäume zwischen ihnen verlieren allmählich die Blätter.

„Im Sommer ist Marzahn grün“, sagt Goldmann. Obwohl nur geradeaus gefahren wird, verliert, wer sich nicht auskennt, in der architektonischen Monotonie die Orientierung. Wäre nicht das gläserne Autohaus, in dem die Mitsubishis fünfstöckig übereinander geparkt sind, gerade so, als stünde jede Karosse für eine Etage, gäbe es keine Orientierungspunkte mehr. „Je weiter du in die Platten kommst, desto enger wird es“, sagt Goldmann und beschließt, auszusteigen, eine Straße im Schatten eines Hochhauses zu überqueren, den Durchgang durch eine Hecke zu nehmen und dann vor sich auf die Kirche von Alt-Marzahn zu zeigen. Zwischen den Hochhäusern duckt sich das Straßendorf mit seinen brandenburgischen Häuschen, der Mühle, dem Duft nach Erde und verbranntem Holz, als läge es in einem Tal in den Alpen. Die Mehrgeschosser sind Zugspitze, Montblanc, Matterhorn.

In Marzahn-Hellersdorf stimmen die Koordinaten nicht. Das Ausmaß der Hochhäuser, die 250.000 Menschen beherbergen, macht, was nicht Hochhaus ist, zur Miniatur. Das Dorf, der Springpfuhl, das erste von Russen befreite Haus – sie wirken, als könnten sie jederzeit verschwinden, so klein sind sie. Mitsubishi hat das verstanden, als die Firma ein Hochhaus für die Autos baute.

Etwas weiter östlich, bei den Marzahner „Gärten der Welt“, wird die architektonische Wirkung der Hochhaussiedlung parodiert. Der Park wirkt groß, weil er in sich die Kopien japanischer, arabischer, chinesischer und balinesischer Gärten beherbergt. Dass all diese Anlagen Kleinode sind, spiegelt die Widersprüche zwischen innen und außen. Auch in der Plattenbausiedlung beginne das Identifizierbare erst hinter den Wohnungstüren, meint Goldmann und nimmt wieder eine Tram und steigt wieder aus und zeigt wieder auf etwas. Landsberger Allee und Hellersdorf und Helle Mitte und dunkle Schatten.

Bevor sie zu sich lädt in ihre vier Wände, die Heimat sind, Heimat im Hochhaus, wird sie zur Flaneurin auf der Marzahner Promenade. Die sollte einmal die Nobelmeile im Viertel sein. Nun blutet sie am Eastgate, dem neuen Einkaufszentrum vor ihren Twins, aus. Im Eastgate machen die Warenhausketten auf weite Welt. Die Leute nehmen es mit Begeisterung auf. Denn in der Menge die Kontur fürs Eigene aufzugeben gilt vielen als große Erfüllung. „Es ist so schwer, die Leute zu erreichen.“ Schweigend geht sie an den leer stehenden Läden auf der Promenade vorbei und fügt plötzlich hinzu: „Das kann ich nicht begreifen.“

Sie muss es nicht begreifen. Ihr Lebensweg hat ihr andere Prüfungen auferlegt. Lesbisch zu sein, obwohl sie dem sozialistischen Standard entsprechen wollte: Mann, Kinder, Beruf. Als sie spürte, dass es so nicht geht, kam ihr die Wende zugute. Ihre Welt fing an, sich zu drehen. Seither kann sie sie aus mehreren Perspektiven betrachten.

Auch zum Eastgate fällt Goldmann immerhin etwas Gutes ein: „Das wird ’ne prima Wärmehalle im Winter.“ Außerdem: „Das Einkaufszentrum hat dem S-Bahnhof einen Behindertenaufzug beschert.“ Was sie allerdings irritiert: dass McDonald’s und Burger King darauf verzichtet haben, sich einzumieten. „Sind die zu gut für uns?“

In ihrer Wohnung endlich gilt nicht mehr Marzahn. Auch nicht Berlin. Da gilt New York. An der Wand im Wohnzimmer hängt ein riesiges Poster der erleuchteten US-amerikanischen Metropole bei Nacht. Die Twin Towers, hier noch intakt, stehen im Fokus des Bilds. Ihr Sturz kam später. New York ist Goldmanns Stadt der Sehnsucht. Als sie dort war, vergaß sie ihre Ambivalenz. Denn in New York hatte sie die Skyline und die Freiheit, sie selbst zu sein an einem Ort. „Welch ein Traum.“