Kleine Realisten

Leben ohne Eltern, wie ist das? Zu Besuch in zwei Berliner Einrichtungen für Kinder und Jugendliche

Die leiblichen Eltern sind für die Kinder erreichbar. Sie sind keine Phantome aus der Vergangenheit.

Von Magdalena Kammler

Lustlos stochert Thomas in seinem Nudelauflauf. Es ist Dienstagmittag, und wie jeden Tag gibt es um 12 Uhr Essen im Kinderheim. Thomas lebt hier seit drei Jahren. Seine Mutter ist drogenabhängig, sein Vater Alkoholiker. Seit drei Jahren hat Thomas keinen Kontakt mehr zu seinen leiblichen Eltern. Seit drei Jahren wartet er auf eine neue Familie. Ob ihn noch jemand haben möchte? Er ist immerhin schon fünf Jahre alt. Die Pflegeeltern, die zuletzt ins Heim kamen, haben sich für die sechs Monate alte Sophia entschieden. Thomas stochert weiter in seinen Nudeln und wartet.

Traurig, oder? Thomas existiert zum Glück nicht. Er ist frei erfunden. Jedoch existiert in vielen Köpfen ein bestimmtes Bild, das Klischee vom Kinderheim als Wartesaal. Ein trauriges Pflegekind wartet auf eine neue Familie, unbarmherzig wird es von Einrichtung zu Einrichtung geschoben und trifft auf überforderte Erzieher, die zu viele Kinder gleichzeitig betreuen müssen. Es gibt sicherlich Fälle wie Thomas. Doch ein Besuch in zwei Berliner Heimen zeigt auch, wie unterschiedlich der Umgang mit dem Warten sein kann.

Westlich von Berlin-Spandau, kurz hinter der Stadtgrenze, liegt eine unscheinbare Einfamilienhaus-Siedlung. Eine alte Dame läuft ihrem Labrador hinterher, während ein Fahrradfahrer sich durch die schneebedeckten Straßen kämpft. Man kann sich gut vorstellen, wie hier im Sommer Kinder Hüpfkästchen auf die Straße malen. Oder wie die Eltern abends von der Arbeit heimkommen und mit ihrem Auto in die Garage rollen. Dörfliche Idylle. Hier erwartet man kein Kinderheim. Vielleicht steht es gerade deshalb hier. Mit rotem Klinker verkleidet, zeigt sich das geräumige Doppelhaus hinter einem kleinen Blumenbeet. Vor der Haustür stehen Kindergummistiefel. Sie gehören den zehn Mädchen und Jungen, die im Emmi-Pikler-Haus wohnen.

In der Einrichtung betreuen und begleiten mehrere Erzieher die Kinder vom Säuglingsalter bis zum sechsten Lebensjahr. Cristina Meinecke leitet das Haus und erzählt von dem Betreuungskonzept, von der Trägerschaft und von ihrem Berufsweg. Und während sie erzählt, ist ihre Begeisterung für ihre Arbeit nicht zu übersehen. Meineckes Stimmlage ist wie ihr Umgang mit den Kindern: sanft, aber bestimmt.

Die kleinen Bewohner des Emmi-Pikler-Hauses warten genau wie andere Kinder: auf Weihnachten, auf den nächsten Geburtstag oder auf die nächste Gute-Nacht-Geschichte. „Gerade Kinder unter sechs Jahren hinterfragen ihre Lage nicht bewusst. Sie sind in einem Alter, in dem sie die aktuelle Lebenssituation als gegeben empfinden“, erklärt Cristina Meinecke.

Dennoch sprechen die Erzieher offen und altersgerecht mit den Kindern über die Situation der leiblichen Eltern. „Kinder sind realisitsch“, ergänzt die in Schottland ausgebildete Pädagogin. Jede Woche haben die Eltern die Möglichkeit, ihre Kinder zu besuchen. Sie haben zwar kein Sorgerecht mehr, doch besitzen sie ein Umgangsrecht. Sie sind überfordert, haben aber die Chance, ihr Kind wiederzubekommen, wenn sie ihre Situation zum Positiven ändern. Auch deswegen besteht für die Kinder kein Grund zu warten: Ihre Eltern sind erreichbar. Sie sind keine Phantome aus der Vergangenheit. Sie sind Teil der Gegenwart und vielleicht auch der Zukunft.

Ortswechsel: Berlin-Friedrichshain. Die pompösen Bauten des DDR-Architekten Hermann Henselmann am Frankfurter Tor wirken wie ein Stadtteil Moskaus. Ein paar Straßen weiter nordöstlich ersetzen Altbauwohnungen die grauen Riesen. Bunte Graffitis überziehen die Hausfassaden.

Leonie und Alexa (Namen geändert) wohnen hier seit vergangenem Jahr. Sie sind 16 Jahre, lieben House-Musik und schauen gerne Action-Filme. Sie wohnen in der Jugendgruppe des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks. Leonie gefällt die Selbstständigkeit in der Einrichtung. Klar bedeutet das auch Verantwortung. Wenn die Jugendlichen Lebensmittel einkaufen, bekommen sie ein bestimmtes Budget zur Verfügung. Die Betreuer unterstützen und geben Richtlinien. Was wird wirklich gebraucht? Wieviel kann für den Einkauf ausgegeben werden? Das funktioniert, und es ist auch eine gute Vorbereitung auf die spätere Selbstständigkeit.

Leonie sitzt lässig auf der Couch im Betreuerzimmer. Die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf nach hinten gelehnt. Alexa sitzt daneben und hat ihre dunkelblonden Haare locker nach oben zusammengedreht. Nach der Schule will sie für ein Jahr ins Ausland gehen, erklärt sie, danach vielleicht Psychologie studieren. Leonie möchte Schauspielerin werden. „Oder ich heirate mit 18!“, sagt sie ironisch und lacht. Die beiden reden nicht allzuviel. Aber sie wissen, was sie wollen: jedenfalls nicht warten.