piwik no script img

BehindertenrechteEine Schule für alle

Die Ratifizierung der UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen beginnt. Viele Sonderschüler warten darauf - um ihre Situation zu verbessern.

Für behinderte Kinder dürfte dieses Verbotsschild an Schulen künftig nicht mehr gelten. Bild: dpa

Erst meldet sich nur eine Frau. Ihre Tochter hat Trisomie 21. "Was wird mit meinem Kind?", fragt sie wütend. "Ich kann nicht ein paar Jahre warten, bis es integrative Plätze gibt. Ich brauche den Platz jetzt!" Dann kommt eine andere Mutter zu Wort, dann noch eine. Alle haben dasselbe Problem. Sie wollen ihre behinderten Kinder nicht in die Sonderschule, sondern auf eine weiterführende Schule schicken. Aber es gibt zu wenig Plätze.

Warten auf die UN

Der Countdown beginnt um 0:30 Uhr. Dann wird im Deutschen Bundestag die erste Beratung dieses Gesetzes aufgerufen. Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.1006 über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Der Kernsatz für die deutschen Schulen darin ist folgender: Die Vertragsstaaten stellen sicher, "dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden". Genau dies ist in Deutschland aber massenhaft der Fall. 86 Prozent der Menschen mit Behinderung haben keine Chance aufeine normale Schule. Sie müssen in Sonderschulen gehen. In ihnen wird eine reduktive Didaktik angewendet, ein - wie Experten es sagen - "Minus-Unterricht, der den Minus-Kindern angemessen ist". Die Betroffenen hoffen nun darauf, dass die Vereinten Nationen ihnen die Rechte gewährleisten, die ihnen die Bundesländer seit Jahrzehnten vorenthalten.

Nun bricht es aus einer Mutter heraus. Sie verstehe den Schmerz dieser Frauen. Sie habe so furchtbares Glück gehabt, einen der freien Plätze zu bekommen. Und es müsse sich endlich etwas ändern! Nicht wenige der 50 DiskutantInnen in der Katholischen Fachhochschule in Aachen sind den Tränen nahe.

Aachen ist nur ein Beispiel. So geht es fast in allen Städten. Formell, auf dem Papier, steht Kindern, die Beeinträchtigungen haben, das Recht auf einen Platz in der allgemeinbildenden Schule zu. Und in den Grundschulen sieht es auch nicht schlecht aus. Viele von ihnen bieten integrativen Unterricht an. Aber die Sekundarstufe wird zum Fluch. Acht Plätze in Aachen, in Düsseldorf wagt sich keiner zu zählen, einige Dutzend in Köln - aber es sind immer zu wenig.

Der Moderator der Podiumsdiskussion in Aachen, Wolfgang Blaschke von der Initiative mittendrin e.V. (eine-schule-fuer-alle.info), sagt, dass es bald die UN-Konvention für die Reche behinderter Menschen gebe. Bisher würden 86 Prozent der behinderten Kinder in Sonderschulen gesteckt. Werde die Konvention deutsches Recht, müssen 80 Prozent dieser Kinder in normale Schulen gehen können - mit besonderer Förderung. Die Teilnehmer wissen nicht, ob sie dem trauen sollen: Ein neuerliches Recht, diesmal von den Vereinten Nationen in New York, überwacht durch einen Ausschuss in Genf, den jeder Bürger anrufen kann. Wird es etwas ändern am Alltag? Zweifel sind angebracht.

Denn das Vertragsgesetz zur Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen liegt zwar auf dem Tisch. Allerdings steht darin, es gäbe schon "vielfältige Übereinstimmungen" zwischen den Schulverhältnissen und dem Menschenrecht auf Bildung. Es soll offenbar der Eindruck entstehen, als ginge es lediglich darum, die Integration von Behinderten in das bestehende Regelschulsystem ein bisschen zu optimieren. Tatsächlich verweist ein Sprecher des Arbeitsministers darauf, dass es "keinen Veränderungsbedarf im Bundesrecht gebe".

Soll da etwa die Unvereinbarkeit des Sonderschulsystems mit dem Anspruch der Konvention auf vollständige Inklusion von Menschen mit Behinderungen geleugnet werden? So kann man es sehen. Oder so: Der Bund beansprucht lediglich für sich, dass in seinem Bereich kein Widerspruch zwischen Konvention und Gesetzen herrsche. "Ich sehe an dieser Stelle die Bundesländer dringend gefordert", sagt Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD). Und beeilt sich, seine Freude auszudrücken, "dass die Länder ihre ,Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung' überarbeiten". Scholz markiert damit die Differenz zwischen Konvention und vielen Ländergesetzen - aber er macht keinen Druck. Sonst könnten die Länder sauer werden und wie bei den UN-Kinderrechten Vorbehalte formulieren. Und das will niemand.

Dabei legt die UN-Behindertenrechtskonvention den Konflikt offen wie eine klaffende Wunde. Artikel 24 über Bildung fordert von den Vertragsstaaten, dass "behinderte Menschen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwenige Unterstützung erhalten". Die Schulsysteme aller Bundesländer verletzen diesen Anspruch. Denn Inklusion, also der Einschluss von besonderen Kindern, ist nicht vereinbar mit Zwangsüberweisungen zur Sonderschule, nicht mit der stigmatisierenden Kategorisierung von Kindern, nicht mit der Wegsortierung von Kindern in Sonderschulen, aus denen es kaum einen erfolgreichen Ausweg gibt. 420.000 Schüler gibt es dort. 80 Prozent verlassen die sogenannten Förderschulen ohne Abschluss.

Der Bundestag tritt nun in die entscheidende Phase der Ratifizierung. (Siehe Kasten) Skandalös ist, meinen die einen, dass Berlin die Umsetzung des Rechts auf Bildung an eine von der Kultusministerkonferenz eingerichtete Arbeitsgruppe abtritt. Die anderen sagen kühl: Das geht gar nicht anders, weil die Länder nun mal zuständig seien. Und raten hierzu: Abwarten! Denn wenn die Länder sich jetzt nicht bewegen, dann wird es zu Konflikten mit der UN kommen - und mit der Bundesregierung. Die dürfe gar nicht tatenlos zuschauen, wenn die Länder Rechte behinderter Kinder verletzen, die sie, die Regierung, anerkannt habe.

In Aachen haben sie eine Lösung gefunden, eine vorläufige. Die Bürgermeister wollen bald die Leiter aller weiterführenden Schulen ins Rathaus laden - und dazu die Eltern mit besonderen Kindern. Um dann, auf dem kleinen Dienstweg, dem Recht behinderter Kinder den Weg zu bereiten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

1 Kommentar

 / 
  • MH
    Michael Harneit

    Ich bin selbst Förderschullehrer, arbeite aber auch an der Grundschule, kenne auch die Hauptschule. Viele unserer Kinder an der Förderschule sind froh, auch hier unterrichtet zu werden, weil sich endlich (und manchmal zum ersten Mal!) jemand um sie kümmert.

    Sie sprechen in Ihrem Artikel von reduktiver Didaktik und dies natürlich despektierlich verhöhnend. Ja glauben Sie denn, man könne aus jedem Schüler einen Abiturienten machen? Ich sperre mich nicht gegen Integration. Aber bitte verbreiten Sie doch nicht solche Allgemeinaussagen über Sonderschulen, die der Sache nicht gerecht werden! Wir holen die Schüler dort ab, wo sie sich mit ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten, Können und Wissen befinden. Und da muss man zwangsläufig reduzieren. Anders geht das doch gar nicht! Beweisen Sie mir das Gegenteil!

    Als ich zuletzt Neuntklässler aus unserer Schule entlassen habe, sprachen mich zwei Mütter an. Sie dankten mir von Herzen dafür, dass sich auf unserer Schule Lehrer so intensiv um ihre Kinder gekümmert haben. Das wäre ein Glück gewesen, weil ihre Kinder auf der Regelschule nur noch Sechser und Fünfer im Zeugnis hatten, nichts mehr machten und sich dort (!) völlig minderwertig fühlten (und alles andere als integriert waren).

    Das ist die andere Seite der Medaille, aber das will ja niemand mehr hören, weil Integration per se etwas Gutes sei. Man schließt sich lieber dem allgemeinen Meinungsmaintream an, weil man damit zum Ausdruck bringt, ein guter Mensch zu sein. Jede vordergründig glänzende Medaille hat eine befleckte Rückseite (das gilt selbstverständlich auch für Förderschulen, aber eben auch für Integration).

    Es kommt für mich darauf an, dass die Schüler endlich gefördert und unterstützt werden. Das Wo ist sicherlich nicht unerheblich, aber eben nur zweitrangig.

    Mit freundlichen Grüßen