Was glaubt Berlin: Interview mit Thomas Flierl: "Die Stadt ist voller Weihnachtsbäume, da muss ich keinen eigenen haben"

Thomas Flierl, Exsenator und Philosoph, glaubt nicht an Gott, sondern an das, was die Welt im Kern zusammenhält: Materie. Das heißt nicht, dass er Bibel, Kirchenmusik oder Bischof Huber gering schätzt.

So kritisch guckt er: Thomas Flierl. Bild: AP

THOMAS FLIERL (51) ist seit 1998 Mitglied der Linkspartei - früher PDS - und war von 2002 bis 2006 Kultursenator in Berlin. In dieser Funktion war er auch zuständig für religiöse Gruppen und Kirchenfragen. Derzeit ist er stadtentwicklungspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Der Sohn des DDR-Architekturhistorikers Bruno Flierl hat 1976 bis 1981 Philosophie an der Humboldt-Universität studiert, anschließend arbeitete er dort als wissenschaftlicher Assistent. Nach Kritik an der offiziellen Baupolitik in Prenzlauer Berg musste er 1985 diesen Posten räumen. Im gleichen Jahr beendete er seine Promotion mit einer Arbeit über die "Ästhetik der Aneignung - Studie zu weltanschaulich-methodologischen Grundproblemen der marxistisch-leninistischen Ästhetik".

taz: Herr Flierl, Sie haben Ihre Mutter bei Ihrer Geburt verloren. Glauben Sie, sie ist jetzt im Himmel?

Thomas Flierl: Nein. Es gibt keinen metaphysischen Ort oder in diesem Sinne Himmel für mich, an dem sich meine Mutter befinden könnte. Präsent ist sie in der Erinnerung, ihrem Fehlen, meinen Sehnsüchten und Träumen.

Wie hat Ihr Vater Ihnen gegenüber damals den Tod und das Fortsein erklärt: Hat er ein Bild entworfen, wo seine Frau, Ihre Mutter, sein könnte?

Das hat er nicht. Als Kind war es für mich sehr wichtig, mit ihm auf den Friedhof zu gehen und das Grab zu sehen. Das war für mich der Ort, den ich mit dem Tod meiner Mutter in Beziehung bringen konnte, aber nicht mit einem Weiterleben woanders.

Sie war einfach weg!

Ja. Hinzu kam auch, dass meine Großmutter, die mich und meine Schwester großgezogen hat, den Tod der Mutter und damit die Erinnerung an sie tabuisierte. Das Unglück, das uns und insbesondere meinen Vater traf, wurde verdrängt. Lange Zeit gab es nicht einmal Erzählungen über sie. Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass mein Interesse in den vergangenen Jahren gewachsen ist, Geschichten und Spuren von ihr zu entdecken und ihrer Biografie nachzugehen. Es ist ein Suchen, aber eher ein Weg als ein Ort.

Sind Sie getauft?

Nein.

Und Ihre Tochter?

Auch nicht, sie hat auch keinen Religionsunterricht besucht.

Hat sie als Kind nach dem lieben Gott gefragt?

Daran kann ich mich nicht erinnern. Wissen Sie, die Frage nach dem Sinnzusammenhang und nach Orientierung in der Welt, insofern nach dem Absoluten und Universellen hat immer auch etwas mit der Komponente Glauben zu tun. Dazu muss der liebe Gott nicht irgendwo auf einer Wolke im Weltgebäude sitzen. Als jemand, der sich wie ich mit der Problematik von Gottesbeweisen in der Philosophie beschäftigt hat, ist klar, dass man weder beweisen kann, dass Gott existiert, noch dass er nicht existiert. Das habe ich versucht, auch meiner Tochter zu vermitteln.

Sind Sie selbst Agnostiker oder Atheist?

Mittlerweile eher Agnostiker.

Gibt es da eine Entwicklung?

Durchaus.

Haben in Ihrer Entwicklung als Kind und Jugendlicher in der DDR dennoch Begriffe wie Glaube, Religion, Gott, Himmel oder Hölle ein Rolle gespielt?

Religion hat keine Rolle gespielt. Meine Familie war, beiderseits, atheistisch. Selbst meine Großmutter, die noch aus einer anderen Zeit kam, stand der Religiosität und kirchlichem Glauben ablehnend gegenüber. Das rührte auch aus ihrer Kriegs- und Fluchterfahrung her. Meine Familiengeschichte trug schon dazu bei, dass es keine Annäherung, nicht den Halt oder die Hoffnung an die Heilsgeschichte gegeben hat.

Wie wurde die Welt dann erklärt?

Wichtig war eine innerweltliche Glaubensbeziehung mit dem Anspruch, die Welt aus sich heraus zu erklären, und wie dieses in eine soziale Fortschrittsutopie münden könnte. Es ging um die Frage, wie sich naturwissenschaftliche und gesellschaftliche Erklärungs- und Entwicklungszusammenhänge darstellen lassen.

Also marxistisch-leninistisch.

Ich würde marxistisch-materialistisch sagen und es nicht parteidogmatisch ausdrücken. Wobei dieses materialistische Modell durchaus auch etwas mit Glauben zu tun hatte. Natürlich hatte man Annahmen über die Wirklichkeit, denen man vertrauen wollte. Und natürlich lief man nicht nur wissend, zuversichtlich und kämpfend durch die Welt, sondern musste auch - bei allen Zweifeln - ein Urvertrauen zu dieser Welt haben.

Aber nicht in Weihnachtsbäume und dergleichen.

Natürlich gab es Weihnachtsbäume! Interessant - aber nicht als religiös zu bezeichnen - war, dass die Weihnachtszeit stets mit Bachs Weihnachtsoratorium verbunden war. Mein Vater legte auf diese Tradition großen Wert. Da die DDR kulturell eine weitgehend protestantische Veranstaltung war, passte dies zur innerweltlichen Welterklärung und dem Arbeitszentrismus natürlich wunderbar. Wir gingen an Weihnachten oder am Neujahrstag nicht aus religiösen Gründen in die Kirche, aber gern ins Weihnachtsoratorium in die Marien- oder Gethsemanekirche. Wir nahmen dies wahr als einen Sinn- und Erzählungszusammenhang, der menschheitliche Kulturgeschichte repräsentierte.

Aber die Kirche, das Weihnachtsoratorium oder Bach sind doch keine abstrakten und neutralen Orte, Begriffe oder Inhalte, sondern sie stehen für etwas.

Ja, für etwas Universelles, nicht zwingend für die christliche Heilsbotschaft, sondern für Werte wie Solidarität, Eigenverantwortlichkeit, Fürsorge für den Nächsten, auch eine soziale und ethische Verantwortung, die schon die Kirchen in der DDR durch ihr kritisches Engagement verkörperten. Aber speziell darum musste man sich nicht der Kirche religiös verbunden fühlen, sondern das hatte eine politische und kulturelle Kraft, die ernst zu nehmen war, mit der man sich auseinandersetzen wollte und konnte.

Sie waren in Ihrer Zeit als PDS-Kultursenator auch zuständig für religiöse Gruppen und Kirchenfragen. Wir können uns nicht daran erinnern, dass Sie in dieser Richtung auffällig geworden wären. Warum?

In den ersten rot-roten Koalitionsrunden machten wir den Vorschlag - auch aus Rücksicht auf die politische Verantwortung der PDS als Nachfolger der SED -, dass sinnvollerweise die Verantwortung für die Kirche bei der Senatskanzlei liegen sollte. Dem hat die SPD nicht zugestimmt. Also kam die Sache zu uns.

Wie haben Sie Gespräche mit Bischof Wolfgang Huber in Erinnerung: Waren die besonders frostig?

Huber ist ein interessanter, intelligenter und polemischer Mann, mit dem man sich aber gut verabreden konnte. Dass man über meine Arbeit als Kirchenbeauftragter so wenig weiß, hängt sicher auch mit der öffentlichen Wahrnehmung für dieses Teilressort zusammen.

Berlin gilt als "gottlos". Wandelt sich da etwas? Wird die Stadt religiöser?

Ja, glaube ich schon. Die westdeutsche Zuwanderung und die entsprechende Sozialisation bringt neue Religiosität in die Stadt. Ebenso die Zuwanderung und die migrantische Kultur - dramatischer, als es zwischen 1945 und 1990 der Fall war.

Finden Sie, dass die Initiative "Pro Reli" die Stadt spaltet?

Nein, nicht wirklich. Ich finde, dass sich die Resonanz in erstaunlich engen Grenzen hält. Das wird ein guter Status-Bericht über die Berliner Verfasstheit. Danach wird man zu einer guten, kooperativen Ausgestaltung des Ethikunterrichts mit den Religionsgemeinschaften kommen.

Sie denken nicht, dass "Pro Reli" das Rennen macht?

Nein.

War nicht am Ende auch die PDS ein Türöffner, weil sie der Einführung des Ethik-Unterrichts zugestimmt hat, weshalb es jetzt "Pro Reli" gibt?

Nicht zwingend. Die militanten Freigeister in Berlin sind eher in der Sozialdemokratie zu finden. Die Linke ist, in Kenntnis ihrer atheistischen Vergangenheit oder Herkunft, nicht so ganz verbissen. Die Erkenntnis, dass es da Bildungsdefizite gibt, dass da ein Teil von Weltkultur zu wenig vermittelt wurde, solche Ansichten findet man eher bei der Linkspartei.

Fänden Sie es denn schlimm, wenn es Religion als ordentliches Wahlpflichtfach gäbe, wie es "Pro Reli" fordert? Es ist doch immerhin eine weitere Option für die Schüler.

Aber es ist die schlechtere Option.

Warum?

Weil die bekenntnishafte Vermittlung einer Religion unter Hinzuziehung von Fenstern anderer Religionen gerade nicht eine weltanschaulich und ethisch neutrale Fundierung ist, sondern genau die Einheit von Staat und Kirche im Bildungswesen herstellt, die Deutschland nur partiell überwunden hat.

Aber in die Aufklärung und den Humanismus sind ja auch die Zivilisationsleistungen des Christentums eingedrungen.

Richtig. Dass eine abendländische Kulturgeschichte ohne die Berücksichtigung des Christentums nicht auskommt, ist doch völlig klar.

Und ohne Kenntnisse der Bibel versteht man etwa die ganze Kunstgeschichte nicht.

Wir sind beieinander, dass die Bibel in ihren Grundzügen im Kern eines europäischen Bildungskanon bleiben sollte. Kein Problem. Aber die Frage ist, ob das in einem von der Kirche unterwiesenem Religionsunterricht zu erfolgen hat.

Wie haben Sie sich denn Ihre Kenntnisse über die Bibel angeschafft: Haben Sie die Bibel denn irgendwann mal gelesen?

Ja, an bestimmten Punkten, wo es nötig war, aber nicht von vorne bis hinten. Ich habe natürlich die Weihnachts- und Passionsgeschichte gelesen.

Wird man eigentlich, wenn man älter wird, gegenüber Religion oder Mythen offener, toleranter, als wenn man ein junger Kommunist ist?

Ich war kein Kommunist, ich war auch kein Marxist-Leninist. Ich maß die DDR an ihrem Anspruch, wurde deshalb Sozialist, aber immer wieder für "feindlich-negativ" gehalten. Die DDR war halt eine Diktatur. Das Problem ist: Das will heute keiner wahrhaben. Aber, bezogen auf Ihre Frage: Man wird offener, natürlich.

Zum Abschluss und zum Fest: Was ist für Sie am schlimmsten, am schwersten zu ertragen: ein Weihnachtsmarkt, ein Weihnachtsbaum oder Bischof Hubers Weihnachtspredigt?

(lange Pause)

Sollen wir die Frage noch mal wiederholen?

Hubers Weihnachtspredigt habe ich noch nie gehört - da hätte ich auch kein sonderliches Interesse, muss ich gestehen. Für Weihnachtsmärkte fehlt mir (noch) die Muße. Die Stadt ist voller Weihnachtsbäume, da muss ich auch in diesem Jahr keinen eigenen haben.

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