piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Unstete

ENFANT TERRIBLE Der Schauspieler Birol Ünel hat nicht den besten Ruf. Doch wer mit ihm gearbeitet hat, weiß: Er hat eine große Kraft und eine beeindruckende Präsenz. Ein Porträt

Birol Ünel

■ Birol Ünel kam am 18. August 1961 in der türkischen Stadt Silifke zur Welt. Als er sieben Jahre alt war, zog er mit seinen Eltern in ein Dorf bei Bremen. Nach der Hauptschule machte er eine Ausbildung zum Parkettleger. 1982 begann er, in Hannover Schauspiel zu studieren.

■ Am Theater war er unter anderem in „Bericht an die Akademie“ zu sehen, einer Inszenierung der Erzählung von Franz Kafka, die er selbst im Berliner Künstlerhaus Tacheles besorgte (1992/93). An der Volksbühne trat er in Frank Castorfs „Die Nibelungen – Born Bad“ (1994) auf, am Berliner Ensemble in Thomas Heises Inszenierung von Heiner Müllers Stück „Der Bau“ (1994).

■ Sein Filmdebüt hatte er in der Rolle eines KZ-Häftlings in Thomas Braschs „Der Passagier – Welcome to Germany“ (1987), danach war er unter anderem in Romuald Karmakars „Das Frankfurter Kreuz“ (1998) zu sehen, in Thomas Arslans „Dealer“ (1998), in Jean-Jacques Annauds „Enemy at the Gates“ (2001), in Fatih Akins „Im Juli“ (2000) und in „Gegen die Wand“ (2004), wofür er den Deutschen Filmpreis in Gold erhielt.

VON CRISTINA NORD

Axel steht an einem Autobahnrastplatz in Belgien. Seine Schultern fallen nach vorne, die Hände stecken in den Hosentaschen, es ist Sommer, das Licht des frühen Abends fällt auf die Szene. Axels 13 Jahre alte Tochter steigt in einen Lastwagen, der sie zurück nach Deutschland bringen wird. Lily, die Mutter, hat die Mitfahrgelegenheit organisiert. Die Eltern sind auf dem Weg nach Brescia, sie schmuggeln Haschisch; die Tochter, Stevie, hat dieses Leben satt. Als Zuschauer erwartet man, dass Axel ihr lange hinterhersieht, bedrückt, reumütig. Aber er hält nur kurz inne, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet in seinem Wagen.

Der Schauspieler, der Axel Gestalt verleiht, heißt Birol Ünel. Der Film, „Die Unerzogenen“, kam vor zwei Jahren in die Kinos, Regie führte Pia Marais. Es ist Ünels stärkster Filmauftritt, seit er in Fatih Akins „Gegen die Wand“ den lebensmüden Protagonisten Cahit spielte. Axel ist ein Spät-Hippie, und Ünel macht das widersprüchliche Wesen der Figur, macht die Gratwanderung zwischen Boheme und Verwahrlosung nachvollziehbar. Die Darbietung ist so nuancenreich und fein, dass man nie den Eindruck bekommt, die Figur würde denunziert. Die Szene auf dem Rastplatz etwa dauert nur ein paar Sekunden. Eine unspektakuläre Totale, und doch steckt so vieles darin, Verlorenheit, Resignation, Trauer über den Abschied, aber auch eine frappierende Gleichgültigkeit.

„Ich hatte einen Heidenrespekt vor Birol Ünel“, erinnert sich Pia Marais. „Er ist ein so toller Schauspieler.“ Dann sagt sie einen Satz, den man oft über Birol Ünel hört: „Er hat eine so große Präsenz.“ Dabei dachte sie ursprünglich an einen anderen Schauspieler für die Rolle. Bei einem Casting stellte sich heraus, wie gut Ünel und die Darstellerin der 13 Jahre alten Stevie, Céci Schmitz-Chuh, zusammenpassten, wie überzeugend sie einen Vater und eine Tochter verkörperten. „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, die Figuren vor mir zu sehen“, sagt Marais. „Chemie ist Chemie.“ Die Freude über die geglückte Verbindung überwog leise Sorgen. Sorgen, so Marais, „dass sich doppelt, was man über ihn denkt und wie die Figur ist“.

Ünel weiß, was man über ihn denkt. „Ich habe ja einen relativ schlechten Ruf“, sagt er, als wir uns an einem Novembernachmittag in einem italienischen Restaurant neben dem Berliner taz-Gebäude gegenübersitzen. Alkoholprobleme, Unbeständigkeit, Eigensinn werden ihm nachgesagt. Selbst im sachlichen Munzinger-Personenarchiv heißt es: „In seinen über sechzig Film- und TV-Auftritten handelte sich Ünel in der Filmbranche den Ruf ein, impulsiv und schwierig zu sein und jemand, der sich bei vielen Engagements mit den Produzenten oder Regisseuren überwirft.“ Als ein Reporter des Zeit-Magazins 2005 ein langes und lesenswertes Porträt von Ünel veröffentlichte, schrieb er ausführlich darüber, wie oft der Schauspieler den Journalisten versetzte und wie unausstehlich er war, kam es ausnahmsweise zu einer Begegnung.

Wenn er Geld braucht, arbeitet Birol Ünel auch heute noch manchmal im Messebau

Ünel sagt: „Ich liebe diesen schlechten Ruf. Er ist wie ein Sieb, das Menschen von mir fernhält, die mit mir nicht arbeiten können und mit denen ich nicht arbeiten möchte.“ Das klingt fast so, als wollte er prahlen. Oder wie ein Schild, der dazu dient, etwas abwehren, was schmerzhaft ist. Vielleicht aber ist es anders, vielleicht sind die Sätze Teil von Ünels Selbstinszenierung als Enfant terrible. Oder alles auf einmal, Prahlerei, Schutz, Schauspiel. Pia Marais vermutet: „Er spielt mit diesem Bild, er ist schon auch ein Rebell. Das ist vielleicht nicht immer sehr klug, aber das ist ihm dann auch egal.“

Vor allem ist der Ruf nur eine Seite von Birol Ünels Geschichte. Der Regisseur Thomas Heise, der ihn 1994 für eine Inszenierung von Heiner Müllers Stück „Der Bau“ am Berliner Ensemble verpflichtete, erinnert sich an eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem Schauspieler und dem Kantinenwirt. „Es gab was auf die Mütze.“ Während der Proben musste Ünel aus seiner Wohnung ausziehen, er wohnte dann im Probenraum und stellte dort auch seine Möbel unter. Aber was viel wichtiger ist: Indem Heise Ünel mit den Gepflogenheiten des Berliner Ensembles konfrontierte, ließ er zwei Arbeitsweisen kollidieren, die sprachbezogene der Bühne am Schiffbauerdamm und die körperbezogene Ünels. „Er versuchte, alle möglichen Sachen auszuprobieren“, sagt Heise, „ich bestand auf dem Text.“ Die Spannung war nicht leicht auszuhalten, aber sie war produktiv. Und dann sagt Heise den Satz, den auch Pia Marais verwendet: „Er hat eine ungeheure Kraft und eine irre Präsenz.“

An dem Nachmittag im November trägt Ünel ein schwarzes Sakko, darunter ein tief ausgeschnittenes T-Shirt, eine grobgliedrige Kette, das graue, etwas längere Haar ist verwuschelt, der Bart neun Tage alt. Vor unserem Gespräch hat er in einem fast leeren Kino Fatih Akins neuen Film gesehen, „Soul Kitchen“. Im September präsentierte Akin die Boulevardkomödie im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig, ab Freitag läuft sie in den deutschen Kinos. Ünel war weder in Venedig noch bei der Hamburger Premiere dabei, obwohl er in „Soul Kitchen“ mitspielt. Seine Figur, der Koch Shayn, geht keine Kompromisse ein und neigt zum Jähzorn, hat aber leider nicht viele Auftritte. „Soul Kitchen“ bietet eher wenig Gelegenheit, Ünels berückende Mischung aus Intensität und Subtilität zu erleben; in Akins „Gegen die Wand“ ist das anders, genauso wie in Pia Marais’ Film. Shayn kommt und geht, und irgendwann in der Mitte von „Soul Kitchen“ ist er verschwunden. „Der Reisende ist noch nicht am Ende, er hat sein Ziel noch nicht erreicht“ steht auf einem Zettel, den er zum Abschied an die Tür heftet.

Beim Method-Acting mobilisiert der Schauspieler eigene Gefühle, um die Regungen der Figur zu modellieren

Birol Ünel hat einen weiten Weg zurückgelegt. Er kam 1961 im Süden der Türkei zu Welt; als er sieben war, zogen seine Eltern mit ihm in ein Dorf bei Bremen, er besuchte die Hauptschule, ließ sich zum Parkettleger ausbilden, legte Parkett. 1982 wurde er an der Schauspielschule von Hannover aufgenommen, er studierte dort nach der Strasberg’schen Methode. Beim Method-Acting mobilisiert der Schauspieler eigene Gefühle und Erinnerungen, um die Regungen der Figur zum Vorschein zu bringen. Auf die Frage, ob das nicht viel Kraft koste, zitiert Ünel einen Satz, den eine seiner Lehrerinnen gerne sagte: „In tausend Messer fallen und sich dabei nicht verletzen.“ Und wie geht das? „Das braucht Übung“, erklärt Ünel, „das braucht Training, Selbstkenntnis und viel Mut zur Unsicherheit.“ Vor ihm liegt ein Beutel Tabak. Manchmal spielt er damit, einmal macht er eine Rauchpause. Er steht auf der Rudi-Dutschke-Straße im diffusen Novemberlicht und fröstelt. Seine Schultern fallen leicht nach vorne.

Für seine Rolle in „Gegen die Wand“ hat Ünel den Deutschen Filmpreis in Gold gewonnen, trotzdem arbeitet er manchmal noch im Messebau. Außerdem kümmert er sich um Jugendliche, die aus ähnlichen Verhältnissen kommen wie er. Aktuell plant er einen Kaspar-Hauser-Workshop mit jungen Straftätern. „Eine Sehnsucht nach Kreativität“ erkennt er in diesen jungen Männern, etwas, was ihm selbst nicht fremd sein dürfte. Das Bedürfnis, sich auszudrücken, artikuliert er immer wieder: „Schauspieler werden diejenigen, die einen Drang verspüren, aus ihrem Leben eine Quintessenz zu ziehen, und sagen: Das möchte ich in einer künstlerischen Form vermitteln an andere. Ich möchte, dass Menschen, die ich nicht kenne, daran teilhaben – natürlich aus einem gewissen Narzissmus heraus. Ich bin gerne eine Rampensau.“

Als ich eine kürzlich veröffentlichte Studie erwähne, die besagt, dass sich die deutschen Kultureinrichtungen schwertun, ein Publikum mit Migrationshintergrund für sich zu gewinnen, fällt er mir ins Wort: „Sie meinen Sarrazin-Texte? Um Gottes willen. Bitte lassen Sie uns das nicht diskutieren, dann fress ich gleich den Tisch auf.“