Interview mit Chodorkowskis Anwalt: "Führen keinen Krieg gegen Russland"

Michail Chodorkowski steht erneut vor Gericht. Der Vorwurf: Diebstahl und Betrug. "In 180 Ordnern der Anklage findet sich kein Beweis", sagt sein Hauptverteidiger Wadim Kljuwgant.

Die Anwälte Chodorkowskis Yury Shmidt (re.) and Wadim Kljuwgant kämpfen weiter für einen Freispruch ihres Mandanten. Bild: dpa

taz: Herr Kljuwgant, Michail Chodorkowski und Platon Lebedew stehen seit Dienstag wieder vor Gericht. Es wird ihnen Diebstahl und betrügerischer Aktienhandel vorgeworfen. Worin unterscheidet sich die neue Klage von der letzten?

Wadim Kljuwgant: Die Sache ist paradox. Die Anklageerhebung wegen Öldiebstahls ist eine Neuauflage der Klage aus dem ersten Prozess, als Chodorkowski wegen Steuerhinterziehung aus demselben Ölgeschäft verurteilt wurde. Das ist ein Verstoß gegen internationale Rechtspraxis, die eine zweite Verurteilung wegen desselben Vergehens verbietet.

War diese Verurteilung rechtens?

Nein. Deshalb haben sich Chodorkowski und Lebedew auch im ersten Fall nicht schuldig bekannt. Absurd ist auch der zweite Anklagepunkt: Durch Tausch sollen sie sich rechtswidrig Aktien angeeignet haben. Aber es kann überhaupt kein Diebstahl vorliegen, sobald im Rahmen eines Geschäfts eine Gegenleistung erbracht wurde. Wer stiehlt, bezahlt nicht. Punkt. Den Diebstahlsvorwürfen folgt die Anklage, das widerrechtlich erworbene Eigentum im Nachhinein legalisiert zu haben. Liegt kein Diebstahl vor, kann auch nichts legalisiert werden.

Wie lässt sich Öl in dieser Menge unbemerkt beiseiteschaffen? Es soll sich um die Produktion von fünf Jahren handeln.

Die Herkunft legal geförderten Öls lässt sich genauso wenig verheimlichen wie der korrekte Tausch von Aktien. Die Klage unterstellt jedoch, die Ölquelle der Einnahmen sei unterschlagen worden. Ein pikantes Detail: Die von der Staatsanwaltschaft inkriminierte Menge des gestohlenen Öls übersteigt die reale Fördermenge. Vor dem Hintergrund des ganzen Irrsinns in diesem Verfahren fällt dies aber kaum noch ins Gewicht.

Die Anklage hat keine Beweise?

In 180 Aktenordnern der Beweisaufnahme findet sich nicht ein einziger Hinweis darauf, wer, wo und auf welche Weise ermittelt hätte, wie das Öl gestohlen wurde. Wenn Öl legal gefördert wurde - und dies bezweifelt nicht einmal die Anklage -, es dann aber plötzlich nicht mehr aufzufinden ist, muss es doch aus irgendeiner Lagerstätte verschwunden sein. Es werden aber keine Fakten präsentiert, die belegen, dass irgendjemand die Menge des unterschlagenen Öls tatsächlich überprüft und fixiert hätte.

DER PROZESS: Der ehemalige Ölmagnat Michail Chodorkowski und sein Mitarbeiter Platon Lebedew müssen sich erneut vor einem Moskauer Gericht verantworten. Ihnen wird zur Last gelegt, zwischen 1998 und 2003 350 Millionen Tonnen Öl im Wert von rund 25 Milliarden US-Dollar gestohlen, 21,4 Milliarden US-Dollar gewaschen und zudem illegalen Handel mit Aktien des eigenen Unternehmens getrieben zu haben. Als Höchststrafe drohen den Angeklagten 22 Jahre Haft. Mit einem Urteil ist frühestens in einem halben, voraussichtlich aber erst in einem Jahr zu rechnen. Beim Prozessauftakt am Dienstag wies das Gericht den Antrag der Verteidigung vorerst zurück, Ministerpräsident Wladimir Putin und andere Mitarbeiter des Staatsapparats in den Zeugenstand zu rufen.

DER ANGEKLAGTE: Bereits im Jahr 2003 war der Eigentümer des Energiekonzerns Yukos, des seinerzeit größten russischen Energieunternehmens, verhaftet worden. Es folgten anderthalb Jahre Untersuchungshaft. 2005 wurde er wegen Steuerhinterziehung und schweren Betrugs zu acht Jahren Haft verurteilt. Damals war Chodorkowski noch der reichste Mann Russlands. Den immensen Reichtum erwarb er in den Neunzigerjahren - wie andere Oligarchen - durch die Nähe zu Politik und Bürokratie. Für billiges Geld heimsten die Oligarchen profitabelste Betriebe aus dem Staatseigentum ein.

Im Unterschied zu anderen Schwerreichen hatte der Tycoon eine Vision: Er wollte Russland in eine offene Gesellschaft verwandeln. Neben zivilgesellschaftlichen Initiativen unterstützte er Parteien, die sich in Opposition zum Kreml befanden. Sein gesellschaftliches Engagement und der Anspruch auf eine politische Führungsrolle gelten als Grund dafür, dass die Staatsführung ihn entmachtete. Nach der Zerschlagung von Yukos verleibte sich der Staatskonzern Rosneft die lukrativen Einzelteile ein.

WADIM KLJUWGANT, 51,

ist Hauptverteidiger von Michail Chodorkowski. Von 1991 bis 1995 war er Bürgermeister der Stahlschmiede Magnitogorsk im Ural. Ab 2002 bekleidete er eine Führungsfunktion in der Ölfirma Sidanko. Danach wechselte er als Vizepräsident zum russisch-britischen Ölkonsortium TNK-BP.

Yukos wird vorgeworfen, Öl bei Tochtergesellschaften günstig erworben und dann zu Weltmarktpreisen weiterverkauft zu haben.

Aber das ist auch in anderen Konzernen die übliche Praxis. Außerdem hat kein Ermittler das Recht, sich in Preisgestaltung und Vertragsgestaltung einzumischen. Das garantieren Zivilrecht und Verfassung, solange nicht andere Gesetze verletzt werden. Die Ermittler versuchen, mit Strafrechtskategorien in den Handel einzugreifen. Das ist der eigentliche Rechtsbruch. Denn keiner kann ernsthaft verlangen, dass Öl an der Quelle genauso viel kostet wie in Rotterdam.

Die Staatsanwaltschaft bezieht sich auf eine Veränderung der Gesetzeslage. Was früher erlaubt war, sei heute strafbar.

Die neue Rechtslage spielt keine Rolle. Die Rechtsverdrehung besteht darin, dass kein Rechtsbruch vorliegt, das Opfer aber vorher feststeht und mithilfe von zurechtgebogenen Beweisen überführt werden soll.

Welche Zeugen rufen Sie auf? Wird auch der stellvertretende Ministerpräsident Igor Setschin in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsvorsitzender des Rosneft-Konzerns befragt?

Ich glaube, dass der Aufsichtsratsvorsitzende des inzwischen größten russischen Ölkonzerns, der aufs Engste mit dem Nachlass des Yukos-Konzerns verbunden ist, wertvolle Informationen geben kann.

Chodorkowski will sich in einigen Punkten vor Gericht selbst verteidigen und kündigte auch eine Überraschung an. Womit können wir rechnen?

Niemand kennt das eigene Kind besser als die Eltern. Yukos war seine Schöpfung. Er übernahm das Unternehmen in ruinösem Zustand und machte es zu einem florierenden und zum transparentesten Konzern des Landes. Da auch Yukos vor Gericht steht, gibt es keinen besseren Experten. Er wird eine professionelle Analyse vorlegen und Technik einsetzen, die bei solchen Verfahren unüblich ist. So viel zur Überraschung.

Den Angeklagten drohen 22 Jahre Haft. Für den Fall einer Verurteilung haben Sie den Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angekündigt.

22 Jahre wären das höchste Strafmaß. Das möchte ich jetzt gar nicht diskutieren. Der Gerichtshof befasst sich schon mit Eingaben aus dem ersten Prozess. Schon einmal hat er zugunsten Lebedews entschieden und eine Geldstrafe verfügt. Unsere Aufgabe ist es aber, im eigenen Land auf Gerechtigkeit zu pochen. Chodorkowski will nicht gegen Russland zu Felde ziehen, ihm geht es um ein transparentes und gerechtes Verfahren.

Staatspräsident Dmitri Medwedjew hat versprochen, den Rechtsnihilismus im Lande zu bekämpfen. Erwarten Sie seine Hilfe?

Es ist die Aufgabe des Präsidenten, die Unabhängigkeit der Gerichte zu garantieren, auch in diesem Fall. Ein unabhängiges Gericht müsste Chodorkowski freisprechen.

Wie viele Verfahren sind gegen andere Yukos-Mitarbeiter anhängig?

Viele, aber wir wissen nichts Genaues. Die Ermittlungen sind bewusst so verwirrend angelegt, dass niemand durchsteigt. Das wahre Ausmaß bleibt auch für uns ein Geheimnis. Parallele Ermittlungen werden seit Langem im Geheimen durchgeführt, auch gegen Leute, die davon nichts ahnen.

Die Ermittlungsakten bestehen aus 180 Ordnern, mehr als im ersten Prozess. Wie erklärt sich der Umfang?

Die Masse ist beispiellos und hat nur ein Ziel: Es gibt keinen Straftatbestand, und dies soll durch Papierberge verdeckt werden. Zugleich wird der Eindruck erweckt, es handele sich um ein schweres Vergehen, das objektiv aufzuklären die Justiz weder Kosten noch Mühen scheut.

Nach dem letzten Prozess wies ein anderes Gericht nach, dass sich der Staatsanwalt Waleri Lachtin im damaligen Verfahren rechtswidrig verhalten hat. Warum darf er erneut die Anklage vertreten?

Der Staat sollte die Klage nicht solchen Leuten übertragen, die - vorsichtig formuliert - die Unwahrheit sagen und Gesetz wie Verfassung falsch interpretieren. Die Kläger haben sich mehrfach dadurch empfohlen, dass sie nicht nach gültigem Recht entscheiden, sondern ihre Vollmacht nutzen, um, koste es, was es wolle, die Legalisierung der widerrechtlichen Entscheidung zu erzwingen. Im laufenden Verfahren dürfte sich dies kaum zum Besseren wenden.

Sind Sie trotzdem optimistisch?

Ja. Zumindest haben wir die Möglichkeit, unsere Sicht der Dinge darzulegen.

Hat die Öffentlichkeit überhaupt noch Interesse am Fall Chodorkowski?

Die Aufmerksamkeit wächst sogar. Viele fragen sich, warum dieser schändliche Prozess neu aufgerollt wird. Weder Staat noch Gesellschaft profitieren davon. Daraus ziehen die Bürger ihre Schlüsse. Geht es nicht ums Gemeinwohl, müssen korrupte Interessen einzelner, aber einflussreicher Leute im Spiel sein.

Das ist ein politischer Prozess?

Darüber wurde schon genug gesagt. Hinter der Verfolgung stehen Leute, die Yukos zerschlagen und Teile davon an sich gerissen haben. Sie fürchten, alles wieder zu verlieren, wenn Chodorkowski in die Freiheit entlassen wird. Deshalb die neuen Repressionen. Am Ende wird dann alles mit politischer Demagogie verschleiert. Vor Gericht werden wir das offen benennen.

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