Ich, einer von 100.000

PROTOKOLL Wie ein 22-jähriger Student die erste Demo seines Lebens in Kopenhagen erlebte

■ Der Autor ist 22 Jahre alt, wohnt in Aachen und studiert Physik. Im Studium befasst er sich mit Photovoltaik und anderen solaren Energiesystemen.

Was ist mit mir los?“, fragte ich mich noch vor einer Woche hier im Blatt, als ich zum ersten Mal in meinem Leben zu einer Großdemonstration fuhr. Ich hatte gehofft, dass meine Generation eine Triebkraft im Kampf gegen den Klimawandel sein könnte, und wollte mit gutem Beispiel voran gehen. Als ich am Samstagmorgen völlig übernächtigt am Bahnhof in Kopenhagen ankam, war die Stadt noch kalt und leer. Doch es war aufregend, zu sehen, wie die Menschen zur Mittagszeit flutwellenartig aus allen Richtungen auf den Parlamentsplatz strömten. Aus großen Boxen wummerten druckvolle Technobässe, die fortan den Herzschlag der Demonstration vorgaben.

Nur unzureichend kann man beschreiben, wie man „in der Masse aufgeht“, es passiert aber schneller, als man denkt. Die meisten Menschen auf dem Platz waren in meinem Alter. Welch verbindendes Gefühl, zu wissen, dass so viele ähnlich denken wie man selbst und nur wegen einer Überzeugung zusammenkommen. Redner wie Kumi Naidoo, der neue Chef von Greenpeace, sprachen mir aus dem Herzen.

Der anschließende Protestzug war bunt, laut und kreativ, die Stimmung war gelöst. Aus den verschiedensten Strömungen, die kaum Wirrköpfe oder Verblendete mitbrachten, wurde eine bedeutende Großdemonstration geformt. Viele Kopenhagener schlossen sich spontan an.

In einer solchen Atmosphäre wirkten die versprengten schwarz-autonomen Steinewerfer absolut deplatziert. Von den anderen Gruppierungen wurden sie auch nicht akzeptiert. Umso trauriger macht es mich, wie rabiat und unverhältnismäßig die Polizei gegen so viele unbeteiligte Demonstranten vorging. Schade, dass die Festnahmen die Medienberichte derart bestimmten.

Auf dem Weg begegnete ich interessanten Menschen: Demoveteranen, die schon gegen die Startbahn West aufgestanden waren, Althippies aus dem Stadtteil Christiania, außerdem diesen Paradiesvögeln, die man aus dem Fernsehen kennt. Sie waren nicht in der Mehrheit. Die meisten waren junge Leute wie ich. Sie verbreiteten ihre Erlebnisse permanent per Handy in alle Welt.

Nach der Schlusskundgebung traf man sich zum Tanzen in der Stadt. Party und Protest, das gehörte wohl irgendwie zusammen. Aber was sollte falsch daran sein? Ist nicht beides eine Befreiung des Geistes?

Bei den Protesten in Kopenhagen ging es um viel mehr als um abschmelzende Polkappen. Der Klimawandel dekliniert im Moment die Verteilungskämpfe auf der Welt völlig neu. Es sind daher die alten Fragen, die auch meine Generation bewegen: Gerechtigkeit, Freiheit, gute Lebensbedingungen für alle. Es wirkt befreiend, dass wir etwas gefunden haben, worauf sich diese Sehnsüchte projizieren lassen, aber ideologische Schranken überwunden zu sein scheinen.

Das 20. Jahrhundert liegt hinter uns. Ein umsichtigeres und vernünftigeres 21. Jahrhundert formiert sich. Das ist weniger sexy als die Weltrevolution, aber weitaus nachhaltiger. Die Klimabewegung steht an der Spitze dieser Veränderung. MARTIN KLEIN