Den Tod nicht gewollt

Nicht zu verstehende Tat, aber kein Mord: Im Prozess um die verhungerte Jessica plädierten die Verteidiger

Für die Verteidigung sind die Eltern eine „verhängnisvolle Symbiose“

Verharmlost das grausame Verhalten von Jessicas Eltern, wer es zu erklären versucht? „Ich möchte kein Verständnis wecken für etwas, für das es kein Verständnis gibt“, schickt der Verteidiger der Mutter Marlies Sch., Manfred Getzmann, seinem Plädoyer vor dem Hamburger Landgericht vorweg. Was immer er gleich zu ihr zu sagen habe, er will vorab die eigene Wut über den Hungertod des kleinen Mädchens kundtun: „Das hätte einfach nicht passieren dürfen.“ Am Schluss seines Vortrages wird er beantragen, die Mutter nicht wegen Mordes zu verurteilen, sondern nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Verletzung ihrer Fürsorgepflicht. „Sie hat ihre Tochter getötet, das steht außer Frage“, sagt Getzmann. „Aber sie hat deren Tod nicht gewollt.“

Bis er zu diesem Schluss kommt, hat der Rechtsanwalt mindestens fünfmal den Satz gesagt: „Auch wenn es hier keiner hören will.“ Er sieht in Marlies Sch. nicht nur die grausame Mutter, die ihre Tochter über Jahre in einem abgedunkelten Zimmer einsperrte, sie frieren, hungern und dürsten ließ, bis sie am 1. März qualvoll starb. Er sieht auch eine tragische Figur, und fast scheint es, als müsse er sich dafür rechtfertigen. Er wird bestätigt: Als er sich zu der Bemerkung vorwagt, die 36-Jährige habe ihre Tochter sogar geliebt, geht ein Raunen durch den Zuschauerraum.

Der Staatsanwalt hatte vorige Woche verlangt, Jessicas Eltern wegen Mordes zu lebenslanger Haft zu verurteilen: Sie hätten ihre siebenjährige Tochter sehenden Auges verhungern lassen, der Vater aus Gleichgültigkeit, die Mutter aus Unbarmherzigkeit. Für die Verteidigung sind die Eltern kein Mörderpaar, sondern eine „verhängnisvolle Symbiose“: Marlies Sch. habe sich stets nach einer „heilen Familie“ gesehnt. Erstmals in ihrem Leben habe ihr Burkhard M. dies bieten können: Er habe ihr Halt gegeben und die Familie finanziell versorgt. Dann aber seien sie umgezogen und die Eltern, die zuvor mit Jessica in einer Wohngemeinschaft gelebt hatten, auf sich allein gestellt gewesen. Als Marlies Sch. dadurch aus dem Gleichgewicht geraten sei, habe sich Burkhard M. als Kontrollinstanz verweigert.

Seine Verteidigerin, Johanna Dreger-Jensen, hält ihm nur vor, als Vater versagt zu haben. Er habe den Tod seiner Tochter nicht nur nicht gewollt. Sie geht sogar so weit anzunehmen, dass er nicht einmal um den katastrophalen Zustand Jessicas wusste. Die Versorgung sei allein Aufgabe der Mutter gewesen, „wie in vielen anderen Familien auch“. Nachdem die Beziehung des Paars in eine Krise geraten war, habe Burkhard M. „seine Rolle als Vater aufgegeben“. Er sei davon ausgegangen, dass Marlies Sch. Jessica ernähre, und habe das nie hinterfragt. „Er hatte keine Kenntnis von dem, was sich im Kinderzimmer abgespielt hat“, so Dreger-Jensen – obwohl die Familie auf 70 Quadratmetern eng zusammenlebte. „Jessica ist bei ihm in Vergessenheit geraten.“

Die Verantwortung für den Tod Jessicas, sagt Verteidiger Getzmann, sei allein im Gerichtssaal zu suchen. Doch er richtet auch ein Wort an die Politik: Spätestens seit dem Fall Jessica „haben wir die Unschuld des Nichtwissens vom Elend vieler Kinder in dieser Stadt verloren“.

Als Richter Gerhard Schaberg den Eltern die Chance für ein letztes Wort gibt, lehnen beide ab.

Das Urteil wird am 25. November verkündet. Elke Spanner