Selbst Gestricktes für den Ruhestand

Nach 27 Jahren im Senat und 10 Jahren als dessen Präsident wurde Henning Scherf (SPD) gestern offiziell verabschiedet. 800 Besucher bildeten einmal mehr eine akklamationsfreudige Menge für den scheidenden Bürgermeister

Bremen taz ■ Drinnen ist Senatspräsidentenwechsel, draußen stehen Schildwachen. Scherfs Abschied aus dem Amt lässt ungeahnte protokollarische Ehren auferstehen, auch wenn statt Hellebardenbewehrter Ratsknechte nur normale Polizisten Posten bezogen haben. Wer darf denn nicht rein – wo doch alle ihren zurück tretenden Landesvater lieben? „Es gibt immer Menschen mit einer anderen Einstellung“, sagt die Wache.

Von denen ist im Rahaus niemand zu sehen. 800 Menschen defilieren in die obere Halle, vorbei an einer Foto-Hommage: Scherf mit Kochmütze beim Hausfrauenbund, Scherf beim Sechstagerennen, Scherf mit Speckflagge. Was bewegt die Menschen? Einige BesucherInnen haben selbst Fotos dabei, auf denen sie mit Scherf zu sehen sind, auch selbst gestrickte Socken liegen als Geschenk bereit. Die Rathausmitarbeitenden haben eine Bank in petto, die im Bürgerpark aufgestellt werden soll. Einen Museumsmann bewegt die Frage, ob Nachfolger Jens Böhrnsen die fünf Landschaftsbilder von Paula Becker-Modersohn im Amtszimmer hängen lässt – oder seinem Haus zurück gibt.

11.17 Uhr: Scherf erscheint, wird von Fanfarenstößen begrüßt. Von ziemlich Dissonanten übrigens. Wieder stellt sich die Frage nach dem Kunstgeschmack: Während Scherf wohlwollend nickt, lauscht Böhrnsen mit unbewegter Miene. Ex-Kultusenator Perschau trommelt unwillige Staccati, Kulturstaatsminister in spe Bernd Neumann scheint auch eher indigniert. Auftritt Christian Weber. Der Parlamentspräsident spricht von Scherfs Fähigkeit, „sich die Menschen einzuverleiben“, von der Öffnung des Rathauses für die Bevölkerung, der florierenden Wissenschaftslandschaft als „Produkt aus Scherfs Politiklabor“ aber auch von „Fehlleistungen, die im politischen Alltag leider von niemandem zu vermeiden sind“. Weber bleibt der einzige, der das böse Wort ausspricht: „Kanzlerbrief“. Dessen Nichteinlösung freilich schmerze niemanden so sehr wie Scherf selbst.

Ein Eindruck, den der Geehrte nicht erweckte. In der Tat sei die „finanzpolitische Schieflage“ des Landes ein noch zu lösendes Problem, erklärte Scherf, im Grunde aber gelte: „Wir können glücklich sein, in Bremen zu leben.“ Zumal „ein großes Tor für die Zukunft“ aufzustoßen sei. Nicht zuletzt gewährte der scheidende Regierungschef Einblicke in die Praxis der großen Koalition („wir haben immer wieder das Informelle gesucht – das hat getragen“) und sein Verhältnis zur Legislative: „Im Parlament war ich nicht immer toll.“ Aber, bei allem Respekt vor der repräsentativen Demokratie, das Volk lebe schließlich auch auf der Straße.

Scherfs klarem Bekenntnis zum Akklamationsprinzip widersprach sein Nachfolger nicht. „Ich habe mir ganz fest vorgenommen, deine Arbeit fortzuführen“, erklärte Böhrnsen. „Seit Jahrhunderten spüren Bremens Bürgermeister die Verantwortung für die Selbständigkeit – auch ich.“ Neben Kontinuitäten (Scherf: „Es ist schön, dass wir beide Luises geheiratet haben“) wurden gestern dennoch bereits Unterschiede deutlich. Scherfs berühmter runder Kiefernholztisch etwa wurde samt WG-Charme in’s Möbellager des Rathauses verfrachtet. Böhrnsen hatte einen der gediegenen Eichentische bevorzugt.

Auf die größtmögliche protokollarische Ehre wurde gestern übrigens verzichtet: die Salutschüsse der von der Rathausdecke baumelnden Orlog-Schiffe. Rein technisch sind deren Kanonen durchaus in Schuss, aber man wolle vermeiden, wie Regierungssprecher Klaus Schloesser erklärte, „dass das Rathaus aus Versehen in Flammen aufgeht.“

Henning Bleyl