Off-Kino
: Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet

„Murder“ (OF) 19. 11., „Mary“ 20. 11., „Der blaue Engel“ 17. 11., The Blue Angel (OF) 18. 11. im Zeughauskino

Ein Vertreter des naturalistischen Kammerspiels im Deutschland der frühen Zwanzigerjahre war der Regisseur Lupu Pick. Sein Film „Scherben“ (1921), von Drehbuchautor Carl Mayer als „Drama in fünf Tagen“ angelegt, zeigt Werner Krauss als einen Bahnwärter, der sich mit Frau und erwachsener Tochter in einem abseits gelegenen Häuschen in ebenso behaglicher wie ereignisloser Bürgerlichkeit eingerichtet hat. Krauss’ schlurfender, behäbiger Gang, sein meist unbewegtes Gesicht, das langweilige Inspizieren der Geleise, die Routine der Familie beim Essen und beim Schlafengehen: Nichts von alledem deutet darauf hin, dass hier jemals etwas Dramatisches geschehen könnte – lediglich die Fensterscheibe, die vom Wintersturm zerbrochen wird, verkündet Unheil. Dann geht alles sehr schnell. Ein Bahninspektor quartiert sich kurzfristig im Haus ein, und ein Blickwechsel zwischen Inspektor und Tochter auf der Treppe genügt: Schon ist die Tochter verführt und das Gerüst der Bürgerlichkeit stürzt ein. Tod, Wahn und Mord sind die Folge. Der ausgeprägte Naturalismus im Spiel der Darsteller und die Tatsache, dass nur ein einziger Zwischentitel verwendet wurde, lassen den Film auch heute noch sehr modern erscheinen.

„La Ricotta“ (OmenglU) und andere Kurzfilme von Pasolini 18. 11., 21. 11. im Arsenal 1

Als „komische Episoden“ werden Pier Paolo Pasolinis für so genannte Omnibusfilme entstandenen Kurzfilme heute bezeichnet. „La Ricotta“ (Der Weichkäse, 1962) ist bei aller Absurdität allerdings weniger komisch als vielmehr ein genauer Spiegel von Pasolinis Weltbild: In der Parabel auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Italien dreht ein marxistischer Filmregisseur (Orson Welles) einen Christusfilm, um seinen „archaischen Katholizismus“ zum Ausdruck zu bringen, derweil sich am Rande der Dreharbeiten eher sehr weltliche Dinge ereignen. Denn Stracci, ein proletarischer Kleindarsteller, der neben „Jesus“ ans Kreuz genagelt werden soll, kommt einfach nicht zum Essen: Das erste von der Produktionsgesellschaft ausgegebene Fresspaket übergibt er seiner hungernden Familie, und ein erschlichenes zweites Paket wird vom Hündchen einer zickigen Filmdiva verspeist. Als es ihm schließlich gelingt, doch noch etwas zu essen zu organisieren, schlingt er es in einer kurzen Pause so hastig herunter, dass er – in der Kreuzigungsszene – stirbt. Das letzte Wort hat der Regisseur: Nur durch sein Sterben konnte der Verblichene uns daran erinnern, dass er lebendig war.

Einem interessanten Phänomen widmet man sich in den kommenden Wochen im Zeughauskino: In den ersten Jahren des Tonfilms synchronisierte man die Filme für den Export ins Ausland nicht, sondern ließ extra fremdsprachige Versionen drehen, manchmal – je nach Fremdsprachenkenntnis – mit den selben Schauspielern, manchmal mit anderen. So ist es in Sternbergs „The Blue Angel“ durchaus Marlene Dietrich, die von der feschen zur „naughty“ Lola wird (und Emil Jannings, der sich mit dem englischen „th“ abplagt), während in Alfred Hitchcocks „Mary“ Alfred Abel anstelle von Herbert Marshall („Murder“) als Sir John auf Verbrecherjagd ins Zirkusmilieu geht. LARS PENNING

„Scherben“ 23. 11. im Arsenal 2