54. Eurovision Song Contest in Moskau: Alle Titel in der Kurzkritik
Wie jedes Jahr treten im Finale des Eurovision Song Contest 25 Länder gegeneinander an. In Moskau liegen Geige und Ballade im Trend. Eine Kurzvorstellung aller Interpreten.
Eine Kurzkritik in der ausgelosten Startreihenfolge:
Litauen. Sasha Son: Love.
Der ehemalige Kinderstar der südlichsten baltischen Republik trägt einen Hut – und das ist nicht hübsch, den er lenkt vom eigentlich sehr schönen Lied um eine Liebe, die so wichtig wie nichts im Leben sei, ab.
Israel. Noa & Mira Awad: There Must Be Another Way.
In Israel selbst war dieses Duo umstritten – vor allem, weil arabische und jüdische Sänger zusammen singen. Noa ist Jüdin, Mira Awad Palästinenserin, beide isralische Staatsbürgerin. Ihr Lied? Eine Friedensbotschaft, die durch beider Stimmen erheblich berührt.
Frankreich. Patricia Kaas: Et s’il fallait le faire.
Die letzte große Dame des Chansons. Ohne Flitter und Glitter steht sie am Mikrofon, die Bühne für sich allein – sie aber eindrucksvoll füllend. Ihre Botschaft: Halte die Zeit für die Liebe an, den nur sie lohnt.
Schweden. Malena Ernman: La voix.
Eine Art Gundel Gaukeley auf blond, eine taffe operngestählte Sängerin, die ätherische Töne zum dreiminütigen Musicalpowerpack vertäut. Wer Paul Potts liebt, mag auch Frau Ernman. Ihr Kleid soll 37.000 Euro gekostet haben – ein Viertel davon allein die Federn.
25 Länder haben sich für das Finale am Samstagabend in der Moskauer Olympiahalle qualifiziert. 17 Länder sind in zwei Qualifikationsrunden (Dienstag und Donnerstag) bereits auf der Strecke geblieben. Die ARD überträgt die Show von 21 Uhr an; zuvor (20:15 Uhr) und danach (0:15 Uhr) steht beim gleichen Sender ein Grand-Prix-Countdown sowie eine Grand-Prix-Party auf dem Sendeplan. Den deutschen Kommentar aus Moskau spricht der Radiomoderator Tim Frühling vom Hessischen Rundfunk.
Die Wertungen im Anschluss an die Lieder setzen sich je zur Hälfte aus den Jurywertungen und dem Televoting zusammen. In den 42 Juries aller diesjährigen ESC-Länder sollen laut Reglement nur Profis aus der Musik- und Entertainmentbranche sitzen. In Deutschland sind dies Sylvia Kollek, Guildo Horn, Jeanette Biedermann, Tobias Kuentzel und H.P. Baxxter. Experten aus der Humtataschlagerbranche sind nicht das Gremien berufen worden.
Die Telefonnummern für das Televoting (Telefon & SMS) werden im Laufe der Show bekannt gegeben. Die Juries sind wieder eingeführt worden, um die Effekte der Nachbarschafts- und Diasporawertungen zu lindern. Beispielsweise haben sich die exsowjetischen Länder einander automatisch mit hohen Punktzahlen bedacht und Irland bewertete automatisch die Songs der baltischen Länder überaus stark - was daran lag, dass in Irland die mächtigsten Migrantencommunities aus Estland, Lettland und Litauen leben.
----------
DIE AUTOREN:
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, taz-Redakteur für besondere Aufgaben und Autor sowie ARD-Experte in Sachen Eurovision Song Contest, guckt sich die ESC-Performances in Moskau seit einer Woche an;
IVOR LYTTLE, Jahrgang 1960, ist Verkaufsleiter in einem alteingesessenen bremischen Handwerksunternehmen und Herausgeber der Eurosong News, dem europäischen Fanzine des ESC.
Kroatien. Igor Cukrov feat. Andrea: Lijepa tena.
Schnulze, die wie Pauschalurlaub in Split mit lappriger Terrassenunterhaltung klingt. Er ist übrigens Theologiestudent – vielleicht hat Gott ihm den Weg ins Finale gewiesen; mit mehr darf er nicht hoffen, Gott kann ja wirklich nicht alles.
Portugal. Flor-de-lis: Todas as ruas do amor.
Ach, wie schön, dieses Liedlein einer absolute bezaubernden Sängerin. Der ganze Act, alle sechs Musikerinnen, sehen wie das Gegenteil aller Casting- und Püppchenshows dieser Schönheitsterrorwelt aus.
Island. Yohanna: It It True?
Ja, es ist wahr: Dieses Land sucht Trost in der Finanzkrise in einer scheuen Ballade, die von einer fast überblonden Frau gesungen wird. Ja, und es ist auch wahr: Sie ist schön, sie klingt gut, sie darf hoffen, dass sie erstmals fuer Island den ESC-Titel holt.
Griechenland. Sakis Rouvas: This Is Our Night.
Er turnt, er tanzt, er wuchtet sich auf der Bühne ein Fließband hoch, er spielt den Macker, er sieht grotesk pseudomännlich aus – und singen tut für ihn ein Mann, der im Bühnenhintergrund bleibt. Grässlicher Konfektionspop – da wird jedes frische Zaziki ranzig.
Armenien. Inga & Anush: Jan-Jan.
Die zwei schwerbemaltesten Augenpaare der Welt, die in einem Ethnoding alles aus sich herausholen, dazu in einem wunderbaren blauen Folklorekostüm. Schön, das!
Russland. Anastasia Prikhodko: Mamo.
Ministerpräsident Wladimir Putin ist angeblich bei ihren Proben nur deshalb gewesen, weil er sie, nun ja, sehr mag. Das Lied hat ohrfräsenden Charakter, diese Ode an die Mama, die die Sängerin immer an ihrer Seite gern wüsste. Achtung, Videoeffekt: Im Hintergrund wird das Bild von Frau Pikhodko eingeblendet, auf dem sie immer älter wird.
Aserbaidschan. AySel & Arash: Always.
Ein kaspischer Versuch, mit Hilfe der englischen Sprache gefällig und mainstreaming zu wirken. Nicht übel, dieser Arash – kehrte eigens für diesen Auftritt aus der westeuropäischen Neuheimat zurück. In Schweden und Russland ein Star – und heute vielleicht der Mann, der den ESC nach Baku holt.
Bosnien & Herzegowina. Regina: Bistra voda.
Stark gesungene Performance einer Band, die von Militär und Frieden und Gewalt und Üblem handelt – Dinge, die nur durch die Liebe gebrochen werden. Suggestiv und einnehmend. Könnte gewinnen. Warum nicht? Sarajewo lohnt die Reise immer.
Moldawien. Nelly Ciobanu: Hora din Moldova.
Hysterischer Ethnofolk aus Cisinau – die Dame weiß in ihrem Trachtenkostüm daran zu erinnern, dass die europäische Welt noch vor 100 Jahren eine der Folkloren und Nationalerzählungen war. Ihr Lied gehört unbedingt ins Finale und auf einen guten Platz.
Malta. Chiara: What If We?
Zum dritten Mal dabei, diese füllige Maltesin. 1998 wurde sie Dritte, 2005 Zweite – und jetzt will sie das alles noch toppen. Routineschmalz mit hoher Stimme: Es wird ihr wieder nicht gelingen, die Trophäe nach La Valetta zu holen.
Estland. Urban Symphony: Raendajad.
Das erste estnischsprachige Lied seit 1998, die erste estnische Finalteilnahme seit 2003 – und das mit einem eher sphärisch gesungenen und mit Geigen unterfütterten Song. Ein Sound wie für eine Beautyfarm, wenn man gerade unter einer Wellnessmaske liegt.
Dänemark. Brinck: Believe Again.
Ronan Keating hat das Lied geschrieben – weshalb es ein wenig nach Schmusepop klingt. Der Mann, der es singt, erinnert ein wenig an den Klassenschönsten, der immer die tollsten Weiber an der Seite hat und doch zugleich Klassensprecher wird. Irland bedauert sehr, dass Brinck in Diensten Kopenhagens ist, tröstet sich aber mit Tatsache, dass ein Ire die Bühne fuer diesen Act entworfen hat.
Deutschland. Alex Swings Oscar Sings: Miss Kiss Kiss Bang.
Ein, so Spiegel-Online kenntnisarm, Song für RTL II-Kunden, in Wahrheit ein eingängiges Lied, das durch den Sänger so etwas wie Las Vegas-Feeling bekommt. Dita von Teese, Burlesktänzerin aus den USA, supportet die Chose charmant.
Türkei. Hadise: Dum tek tek.
Istanbuler Dancefloorpop der guten Art. Hadise leidet immer noch unter Heuschnupfen und droht, etwas stimmlos zu wirken. Die Show rettet sie womöglich. Sie wird nicht gewinnen, aber migrantische Anrufe können sie nach vorne werten. Blöde nur: Warum singt eine emanzipierte Frau, die in Belgien lebt und eine Marketingspezialistin ist, von einem dienenden Dasein im Harem?
Albanien. Kejsi Tola: Carry Me In Your Dreams.
Eine junge Frau aus Tirana, die noch zur Schule geht und dennoch so tut, als wartete sie darauf, von einem Mädchenhändler verschifft zu werden. Erschreckendes Liedlein, das sich lediglich eignet, in balkanesischen Kartenspielerhöhlen im Hintergrund zu laufen.
Norwegen. Alexander Rybak: Fairytale.
Ein migrantischer (Weißrussland) Norweger, der mit Bubencharme und Geige ein Folksong darbietet. Hoch favorisiert, zumal der Tanzeinlagen wegen.
Ukraine. Svetlana Loboda: Be Me Valentine (Anti-Crisis-Girl).
Maschinenpark-, Madonna-ähnlicher Pop aus Kiew. Die Dame schmettert in einer Kulisse aus Industriemüll einen Song, der gegen Männergewalt wettert und beteuert, dass Frauen das Recht auf Selbstbestimmung haben. Absolut im Favoritinnenkreis.
Rumänien. Elena: The Balkan Girls.
Neckisch, fies, pseudofreundlich, mindercharmant – das Land gehört nicht zum Balkan, aber offenbar glaubten die Texter und Komponisten, das Wort Balkan trüge zur Sympathie bei. Gut für einen der letzten Plätze.
United Kingdom. Jade Ewen: It’s My Time.
Lord Andrew Lloyd Webber hat dieses Lied geschrieben – getextet wurde es von der US-Promitexterin Diane Warren. Das Resultat klingt, als würde mit Spatzen auf Kanonen geschossen. Die Sängerin bringt diese Webbermixtur würdig und stimmlich auf allen Höhen der Zeit.
Finnland. Waldo’s People: Lose Control.
Irritierenderweise kam diese finnische Band ins Finale. Die Damen zu dünn, der Mann, Waldo, flippt auf der Bühne herum – man sollte ihnen zumindest wünschen, dass sie nicht Letzte werden, sonst wird es in Finnland wieder so depressiv.
Spanien. Soraya: La noche es para mi.
Die Nummer ging aus einer Internetcastingshow hervor – das Land steht hinter ihr, das Fernsehen hat nur Augen für sie, diese blonde junge Exstewardess aus Valencia de Alcantara. Ihre Nummer wird man sommers garantiert an den dortigen Stränden hören. Nett, die Nummer.
Tendenzen dieses 54. ESC-Jahrgangs:
Jede Menge Geige, fast kein Song, der nicht zum Dreiminutenmusicalstück aufgerüscht wurde; außerdem: ein Drittel der Acts wird durch pyrotechnische Elemente untermalt. Musikalische Tendenz: Geigengefiedel und orientalische Harmonien. Auffällig außerdem die Renaissance der klassischen Balladenhymne.
Regeln:
Nur sechs Menschen dürfen je Act auf der Bühne stehen. Viele Sänger werden von Stimmen im Hintergrund unterstützt. Alle Sounds werden aus der Konserve eingespielt; die Vokalpartien müssen allerdings live gesungen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Menschenrechtslage im Iran
Forderung nach Abschiebestopp