Sein Name wird Gesetz

NETZ Aaron Swartz wollte die Mauern des Internets einreißen, die US-Justiz drohte ihn einzusperren. Nun ist er tot

■ Leben: Geboren wurde Aaron H. Swartz, Sohn einer jüdischen Familie, am 8. November 1986 in Chicago. Am 11. Januar 2013 nahm er sich in seiner New Yorker Wohnung das Leben. Er hinterlässt seine Eltern und zwei Brüder.

■ Wirken: Swartz galt als Internet-Wunderkind. Schon als 14-Jähriger war er Koautor der RSS-Spezifikation 1.0. Er war Programmierer, Autor und Hacktivist – und setzte sich für freien Zugang zu Inhalten des Internets und gegen Zensur ein.

AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN

Aaron Swartz war ein Virtuose am Computer. Ein mitreißender Redner. Ein energiegeladener Kreativer, der für offenen Zugang zu dem digitalen Wissen der Welt kämpfte. Er wollte die Mauern des Internet einreißen. Er war einer jener Pioniere, die neue Territorien erobern, die Institutionen gründen und die Formate schreiben. Eines davon wird täglich von Millionen Surfern in aller Welt benutzt: der Newsfeed RSS – für: really simple syndication –, der Blogs und andere Nachrichten bündelt.

Aber seinen Namen hat die große Öffentlichkeit erst kennengelernt, nachdem der 26-Jährige sich am 11. Januar das Leben genommen hat. Ihm drohten bis zu 35 Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von einer Million Dollar, weil er sich in das Archiv JSTOR der Universität Massachusetts Institute of Technology gehackt hat.

Aaron Swartz hatte – wie schon mehrfach zuvor – Daten „befreit“. Ihm ging es nicht um Geschäfte, sondern um ein politisches Statement. Gegen eine „Paywall“. Gegen Gebühren, die das akademische Wissen, das nach seiner Ansicht der Menschheit insgesamt gehört, zu dem Privileg einiger Wohlgeborener macht. Nach seiner Verhaftung hat Aaron Swartz die 4,8 Millionen Dokumente ungenutzt an JSTOR zurückgegeben.

Diebstahl bleibt Diebstahl

Das Archiv hat weder Schaden erlitten noch Anzeige erstattet. Ohnehin hatte er Zugangsrechte zu dem Archiv. Bloß nicht zu der schieren Menge von Daten, die er herausgeholt hat. Doch Anklägerin Carmen Ortiz hielt an ihren Ermittlungen fest und erklärte: „Diebstahl ist Diebstahl.“ Aaron Swartz’ Freunde und Angehörige sind überzeugt, dass sie mit den insgesamt dreizehn Anklagepunkten und extrem hohen Strafandrohungen ein Exempel an Aaron Swartz statuieren wollte. Und dass es dieser Druck war, der ihn in den Selbstmord getrieben hat. Sein Vater geht noch weiter. Robert Swartz sagt: „Die Regierung hat meinen Sohn getötet.“

An diesem Dienstagabend stehen überlebensgroße Fotos in dem großen Saal mit vergoldetem Stuck im Cannon-Gebäude des Kongress. Sie zeigen einen jungen Mann mit Dreitagebart, mit zerzaustem Haar und mit einem Lächeln quer über das ganze Gesicht. Seine Kollegen und Freunde erzählen von dem atemberaubenden Rhythmus, in dem Aaron Swartz durch sein Leben gegangen ist. Von den Programmen, die er geschrieben, und den Unternehmen, die er mitgegründet hat. Darunter Reddit.com, eine populäre Webseite mit Mikroblogs, aus der er im Alter von 19 Jahren mit Gewinn ausgestiegen ist. Das Internetarchiv Archive.org in San Francisco. Und die alternative Copyright-Organisation Creativecommons.org. „JSTOR war eine kleine Sache für ihn“, sagt Ben Wikler, Internetaktivist und enger Freund des Toten, „das stand nie im Zentrum. Aaron hatte jede Menge andere Projekte“.

Wie sein Freund war auch Wikler völlig überrascht von der Wucht der Anklage. Viele dachten zunächst an einen Irrtum und warteten auf die Korrektur. Die beiden Freunde waren gemeinsam bei AVAAZ tätig, einer international agierenden Stiftung, die Internetpetitionen organisiert. Sie haben in der Gruppe „Demand Progress“ erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit gemacht und unter anderem mit dafür gesorgt, zwei Gesetze gegen Raubkopien – SOPA und PIPA – zu stoppen, die von der Film- und Musikindustrie angestrebt werden. Mehrfach waren sie auch im Wahlkampf für Präsident Barack Obama engagiert.

Wikler charakterisiert seinen toten Freund als „brillanten Freigeist“ und „vollkommenen Amerikaner“. Wikler: „Er hat nicht viel über Regeln nachgedacht. Er wollte eine bessere Welt.“ Doch auch in der Wucht der Justiz sieht Wikler etwas Typisches. „Es ist das Schlimmste von Amerika. Die düstere Seite, die alles kontrollieren will.“

Die Fotos von Aaron Swartz lassen keine Depressionen erahnen. Er war ein Kind des Internets. Als er krabbeln lernte, kamen in den USA kommerzielle Internetanbieter auf den Markt. Als Teenager schrieb er – nicht in einem Tagebuch, sondern in einem Blog – über die Traurigkeit, die ihn manchmal überkommt. Und darüber, wie schwer das sei, obwohl seine Depression eine leichte Form sei. Auf diese Veröffentlichung berufen sich jetzt jene, die Depressionen für seinen Selbstmord verantwortlich machen.

Sein Freund Larry Lessig, Jura-Professor in Harvard, nennt das „unfair“. Der 52-Jährige hat sich schon vor Jahren moralisch über die im Herbst 2010 von Aaron Swartz gehackte Paywall von JSTOR entrüstet. Andere Internetaktivisten, wie Carl Malamud, weisen posthum darauf hin, dass Aaron Swartz bei dem Hacking keineswegs ein Einzeltäter, sondern „Teil einer Armee“ gewesen sei.

„Er hat nicht viel über Regeln nachgedacht. Er wollte eine bessere Welt

BEN WIKLER, INTERNETAKTIVIST
Ein hochbegabter Junge

Als der Jurist Lessig und der Schüler Aaron Swartz sich kennenlernten, war Letzterer ein hoch begabter zwölfjähriger Junge, der bereits einen ersten Preis gewonnen hatte. In den vierzehn seither vergangenen Jahren haben die beiden an verschiedenen Projekten zusammengearbeitet. Und diverse gemeinsame Reisen unternommen – darunter auch eine zu einem Treffen des Chaos Computer Clubs in Berlin. „Ich habe nie gedacht, dass er sich das Leben nehmen könnte“, sagt Lessig.

An diesem Abend in Washington, weniger als vier Wochen nach seinem Tod, ist Aaron Swartz’ großes Thema, die Transparenz im Internet, im politischen Allerheiligsten der USA angekommen. Schon zuvor hat es Gedenkveranstaltungen für ihn gegeben. Darunter in New York, wo er zuletzt gelebt, und in San Francisco, wo er kurz an der Universität Stanford studiert hat. Aber dort waren die Internetaktivisten stets unter sich geblieben. Punktuell stießen Naturwissenschaftler zu ihnen, die ihre Texte nach Aaron Swartz’ Tod demonstrativ gratis per Twitter mit dem Hashtag #pdftribute veröffentlichten. In Washington ist das Publikum anders: Ein knappes Dutzend Abgeordnete sind dabei. Und dieses Mal sitzen nicht nur Linke, sondern auch einige konservative Internetaktivisten im Saal.

Aaron Swartz’ Name schmückt jetzt einen Gesetzentwurf. Eine demokratische und ein republikanischer Kongressabgeordnete haben ihn gemeinsam vorgelegt. Dieser Gesetzesentwurf soll es möglich machen, Computerbetrug, -diebstahl und andere Formen der Cyberkriminalität weiterhin zu verfolgen, ohne gleich das Leben von idealistischen Hackern zu zerstören. Andere Abgeordnete – auch die aus beiden Parteien – verlangen in seltener Einmütigkeit Erklärungen von Justizminister Eric Holder für das harte Vorgehen der Ankläger. Und Taren Stinebrickner-Kauffman, die ihren toten Gefährten am 11. Januar in der gemeinsamen Wohnung im New Yorker Stadtteil Brooklyn gefunden hat, fordert „alles zu tun, damit die nächste, auf Aaron Swartz folgende Generation ihre Arbeit tun, forschen und veröffentlichen kann, ohne Gefängnisstrafen fürchten zu müssen“.

Sie verlangt zugleich eine Reform der Strafjustiz: „Sie hat Aaron zugrunde gerichtet. Aber keinen einzigen Banker wegen der Spekulationsblase ins Gefängnis gebracht.“