Volkstheater: Anarchie auf dem Dorf

Bei den Heersumer Sommerspielen wird man auf Hausfrauen treffen, die als Ökos verkleidet auf einem Bein über eine ehemalige Mülldeponie hüpfen. Das Publikum muss einfach mitgehen.

Die Präsidentin der Wegwerfgesellschaft (Antonia Tittel) und der Gelbe Sack (Florian Brandhorst) vor dem Schauplatz des Finales. Bild: Klaus Irler

Friedrich Schill ist 46 Jahre alt. Er wohnt in der Ortschaft Heersum im Landkreis Hildesheim und ist Sparkassen-Angestellter. Wenn er im Dienst ist, trägt er Krawatte und sitzt auf einem Bürostuhl in einer sauberen Sparkassen-Filiale. An diesem Samstag aber ist er nicht im Dienst. An diesem Samstag ist Friedrich Schill Schauspieler. Das Stück heißt "Heinde Park", es spielt auf einer Mülldeponie und was ansteht, das ist die Hauptprobe. Die Premiere ist am kommenden Samstag.

Schill sitzt auf einer Holztribüne und trägt einen weißen, flauschigen Ganzkörperanzug. Auf den Rücken hat er einen großen Waschmittelkarton geschnallt und in Händen hält er eine weiße Bärenmaske. Was seine Rolle ist in dem Stück? "Ich bin der Weiße Riese", sagt er. "Ich bin eines von den Reinigungsmitteln. Wir befreien das Hotel von den Ratten."

Der Plot des Stückes "Heinde Park", wie wir ihn verstanden haben (ohne Gewähr):

Dieter Kasupke ist Mitte 40 und Familienvater. Zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Kindern fährt er auf eine Mülldeponie, um den Hausmüll los zu werden. Dieter findet eine Urkunde die besagt, dass er ein Hotel geerbt hat. Dieses will er suchen, setzt sich in ein Müllauto - und fährt los.

Unterwegs trifft er auf die Wegwerfgesellschaft. Die Wegwerfgesellschaft wird regiert von einer Präsidentin und ihrem Lover, dem Gelben Sack.

Während Dieter sein Hotel sucht, geraten seine Kinder auf eine Müllrakete und werden mit ihr auf den Mond geschossen. Mit in der Rakete war Dieters Kinderbett. Auf dem Mond hat der Gelbe Sack eine riesige Zwille gebaut. Er erpresst die Erde damit, sie mit einem Müllbombardement zu zerstören.

Dieter findet sein Hotel und plant, einen Freizeitpark zu bauen. Außerdem trifft er die Präsidentin und gibt vor, sie heiraten zu wollen. Eigentlich aber will er nur an ihr Geld. Die Präsidentin verliebt sich in Dieter und verlässt den Gelben Sack.

Eine Hausmüllgruppe will das alles nicht akzeptieren und holt Dieters Kinderbett vom Mond zurück. Dieter setzt sich in sein Kinderbett und fängt an, seinen Plan zu beichten. Die Präsidentin verlässt ihn und geht zurück zum Gelben Sack, der seinerseits seine bösen Absichten aufgibt und zum Jutesack wird.

Dieter baut den Freizeitpark und gibt jedem eine Aufgabe. Happy End.

So wie Friedrich Schill geht es derzeit vielen Bürgern des Örtchens Heersum. Die Proben für das Stück "Heinde Park" befinden sich in der heißen Phase. Also tragen Heersumer Hausfrauen Palästinenser-Tücher, Parkas und Janis-Joplin-Hüte, sie stehen im Kreis auf der Deponie, hüpfen auf einem Bein und singen: "Hoch - die - internationale - Solidarität". Die Damen spielen in dem Stück eine Öko-Truppe. Dazwischen laufen Kinder in blauen Plastikkleidern durch die Gegend - sie sind die "Blauen Umweltengel". Insgesamt sind rund 130 Leute aller Altersstufen an dem Stück beteiligt. 16 dieser 130 Leute sind Profis, engagiert vom Heersumer Forum für Kunst und Kultur, das Theaterveranstaltungen dieser Art seit 1993 auf die Beine stellt.

Das Konzept dieses Theaters ist immer gleich: Jedes Mal sind es eine Handvoll Profis um Regisseur Uli Jäckle, die mit einer großen Menge Laien aus Heersum und Umgebung zusammenarbeiten. Jedes Mal handelt es sich um Landschaftstheater. Das heißt, es wird ein prägnanter Ort in der Umgebung gesucht, der bespielt wird. Jedes Mal ist die Ausstattung opulent wie bei einer Oper im Staatstheater: Die Heersumer spielen nicht nur, sie nähen auch die Kostüme und basteln die Bühnenbilder.

Im diesjährigen, wie immer selbst geschriebenen Stück "Heinde Park" geht es um einen Familienvater, der ein Hotel auf der Müllkippe geerbt hat und nun auf dem Gelände einen Freizeitpark errichten will. Stark vereinfacht gesagt. Genauer betrachtet gibt es verschiedene weit verzweigte und schräge Handlungsstränge (siehe unten). Das gehört zum Konzept in Heersum.

Der Schauplatz ist der renaturierte Müllberg der Mülldeponie Heinde. Müll ist hier nicht zu sehen, der liegt unter einer Grasfläche und bildet einen künstlichen Berg, der die höchste Erhebung in der Landschaft ist. Das Stück findet an verschiedenen Orten rund um den Berg statt, an die sich die Zuschauer zu Fuß begeben werden. Das Landschaftstheater der Heersumer ist gleichzeitig ein Trekking-Theater, die Wegstrecke beträgt ungefähr vier Kilometer. Die Aufführung dauert rund vier Stunden. Zum Sitzen gibt es Tribünen oder Klappstühle. Der Verzehr von Pausenbroten während der Aufführung ist ausdrücklich erlaubt. Unpassend ist dagegen Abendgarderobe aus Stöckelschuhen und Krawatten.

Rund 500 Besucher erwarten die Veranstalter bei jeder der insgesamt zwölf Aufführungen. "Die Eintrittsgelder machen etwa die Hälfte des Etats aus", sagt Jürgen Zinke vom Forum für Kunst und Kultur. Der Rest sind Mittel der öffentlichen Projektförderung und von Stiftungen und privaten Sponsoren. Insgesamt beträgt der Etat pro Jahr 130.000 Euro - was nichts ist im Vergleich dazu, was professionelles Theater an festen Häusern kostet.

Aber das Heersumer Sommertheater ist kein professionelles Theater, und das ist seine Chance. In Heersum hat es funktioniert, weil ein erheblicher Teil der Bevölkerung mitzieht und jeder auf seine Art etwas beisteuert - zu den Requisiten, den Kulissen und den Kostümen. Das Ergebnis ist quantitativ eindrucksvoll und folgt einer eigenen Ästhetik - selbst gemacht, zweckentfremdet, phantasievoll. So entsteht ein Volkstheater, das nicht fürs, sondern vom Volk gemacht wird.

Aber nicht nur, denn da sind ja auch noch die Profis. Ganz am Anfang waren es eine Handvoll Kulturpädagogen von der Universität im benachbarten Hildesheim, die in Heersum mit Kulturprojekten anfingen. Mittlerweile sind es viele Absolventen des Studiengangs, die bei dem Projekt mitwirken. Aber nicht nur: Das Trashige des Heersumer Sommertheaters, seine anarchische Grundveranlagung und seine Größe machen das Projekt trotz schlechter Bezahlung auch für professionelle Neueinsteiger interessant. Mit Volkstheater im Ohnsorg-Stil würde das nicht funktionieren.

"Die Profis hier nehmen jeden ernst" sagt Oliver Findeiß, 41, in seinem alltäglichen Leben beschäftigt als Lehrer. Im "Heinde Park" ist er halb Pirat, halb Ratte. Findeiß geht es wie vielen der Laien um das Gemeinschaftserlebnis, darum, als Dorf etwas auf die Beine zu stellen. "Einen Monat vor der Premiere fängt Heersum an zu summen", sagt Findeiß. "Das Summen wird dann zu einem Brummen. Und das Ergebnis haut einen um."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.