Debatte Superwahljahr: Konfrontation, Leute!

Das konservative Lager bringt sich skrupellos in Stellung. Die Linken haben bislang nicht mal eine Idee von sich selbst.

Es ist schon bemerkenswert, wie selbstsicher das konservative Lager sich derzeit gegen eine träge Linke in Stellung bringt. Blitzschnell wurden die neuen historischen Fakten im Fall Kurras genutzt, um eine bekanntlich globale linke Bewegung als Stasi-gesteuert zu denunzieren. Immerhin haben wir Wahljahr, und es gilt trotz der Krise einen Linksrutsch zu vermeiden. Wer in den letzten Monaten geglaubt hatte, der Zusammenbruch des Finanzmarktes und die Rückkehr der Kritik am Kapitalismus würden eine linke Deutungshoheit stärken, muss sich eines Besseren belehren lassen: Das offensichtliche Versagen der neoliberalen Eliten führt paradoxerweise zur Stärkung der neoliberalen Eliten.

Warum nur tut sich die linke Kritik so schwer, die Fakten für ihre Sicht der Dinge in Anspruch zu nehmen? Warum überlassen die meisten Linksintelektuellen mehr oder weniger kampflos den Konservativen die Deutungshoheit über die Ursachen, Verantwortlichen und Konsequenzen der Finanz- und Wirtschaftskrise? Die eine Antwort liegt auf der Hand: Das mit der Agenda 2010 eingeleitete Siechtum der SPD, die Zahnlosigkeit der Gewerkschaften, die im Wahljahr wieder nicht zur SPD-Spitze auf Distanz gehen mögen - jenes nie enden wollende interne Lavieren der großen linken Institutionen verhindert, eine breitere öffentliche Meinung gegen die Nutznießer der Krise zu mobilisieren. Ein weiterer wesentlicher Grund für die ungebrochene Diskurshoheit der Konservativen ist der noch von der letzten Pore des linksintellektuellen Gehirns aufgesogene Glaube, dass das eigene, das individuelle Handeln letztlich irrelevant sei. Zudem mache es keinen wesentlichen Unterschied, ob eine große oder eine schwarz-gelbe Koalition die Regierung stelle. Beide Male regierten die Falschen.

Was für ein Unfug! Der Komplettausfall der SPD und der Gewerkschaften als Plattformen für kritisches Denken zeigt ja, wie notwendig Institutionen als Katalysatoren für eine Gesellschaft sind, die Gerechtigkeit als Wert erachtet. In anderen Worten: die verhindern möchte, dass nur noch eine Minderheit die Möglichkeit erhält, Souveränität über die eigene Biografie zu erlangen. Nach Alexander Kluge ist diese Nichtentfremdung vom eigenen Leben übrigens das höchste Gut, das wir modernen Menschen besitzen. Aber man muss gar nicht die Lektüre großer linker Denker auf sich nehmen. Auch die konservativen Eliten führen uns seit der Pleite von Lehman Brothers täglich vor Augen: Die Geschichte ist offen. Man kann sich die Welt so erfinden, wie sie einem gefällt. Wenigstens für eine gewisse Zeit. Und das hilft ja ungemein, will man etwa die Kosten der Krise denen aufbürden, die schon vom boomenden Finanzmarkt nicht profitiert, sondern brav von ihren mittleren Einkommen Steuern bezahlt haben.

Dieser nicht zu erschütternde Glaube seitens der Mehrheit der Linksintellektuellen, das eigene Handeln sei letztlich nicht systementscheidend, findet Nahrung in den Denkschulen der 80er- und 90er-Jahre. Die Entwicklung von Systemalternativen galt ihnen als überholt. Sie alle verhöhnten ein Denken, das sich eine andere Welt mit anderen Spielregeln vorstellen wollte, als verblendet, naiv oder pathetisch. Das stattdessen ausgegebene Ziel war der Realismus - dazu gehörte, dass man die offene Konfrontation mit den politisch Andersdenkenden tendenziell mied. Die Rechten arbeiteten unterdessen fleißig an einer neuen Welt, eine, in der ein zunehmend schwächer werdender Staat für ihren exorbitant hohen Lebensstandard einzustehen hatte. Und dafür scheuen sie keine noch so billigen Tricks der ideologischen Mobilmachung und der aggressiven Konfrontation.

Das Tabu, sich eine andere Welt auszumalen, hat mit dem Scheitern der vorhandenen Systemalternativen, also dem Zusammenbruch der Sowjetunion, einerseits und der islamistisch geprägten Opposition zum Westen andererseits zu tun. Der Kommunismus bastelte ja am neuen Menschen - mit bekanntem, ernüchterndem Ergebnis. Der Islamismus verteidigt eine Welt, die man als selbständig denkender Mensch nicht wollen kann. Und die Selbstzensur in Sachen alternatives Denken erklärt sich auch aus dem Umstand, dass die meisten sich bis vor ganz kurzem einfach nicht vorstellen konnten, dass die Eliten wirklich so viel Unfug anrichten würden, wie sich gegenwärtig herausstellt.

Wir Linken haben aus dem Überdruss an der ewigen linken Rechthaberei die falsche Konsequenz gezogen: den Run auf die Mitte und das Verpönen der Konfrontation. An diesem Punkt sind die Linken, nicht zuletzt auch die linken Medien, den Neoliberalen zuhauf auf den Leim gegangen. Diese nämlich haben den Fantasieverlust und den Opportunismus ihrer politischen Gegner genutzt, um die ihnen opportune Idee flächendeckend zu vermarkten: Nur eine prosperierende und sich von den Mehrheitsbevölkerung radikal entkoppelnde Elite sei in der Lage, eine zeitgemäße Demokratie zu installieren.

Natürlich darf ein Ja zur Konfrontation mit politischen Kontrahenten nicht heißen, dass man sich nun wieder auf ein endloses ideologisches Pingpongspiel einlässt. Vielmehr geht es darum, sich und damit auch der breiteren Öffentlichkeit wieder ein Nachdenken zuzumuten, das auf zwei Ebenen spielt: der machttaktischen - also der realpolitischen - und der utopischen. Das würde bedeuten, das Schwarz-Weiß-Schema der Konservativen herauszufordern, indem der Öffentlichkeit wieder mehr Komplexität zugetraut wird.

In ihren guten Momenten ist den 68ern jene unverzichtbare, explosive Mischung gelungen: Sie verbanden eine breite Neugierde für ökonomische Grundlagen mit einer Respektlosigkeit gegenüber den vorhandenen Strukturen und Autoritäten. Und sie haben sich selbst ermächtigt, sich neu zu erfinden. Nichts weniger steht vierzig Jahre später wieder an: die freudvolle Neuerfindung eines politischen Subjekts, das aus den gemachten Fehlern lernt, ohne sich selbst für ohnmächtig zu erklären; eines Subjekts, das wieder mit einem strategischen Wir operieren kann. Gut, dass wir noch einen ganzen Sommer lang Zeit haben für unsere anstehende Generalüberholung.

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leitet seit August 2015 das Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung.   Mich interessiert, wer in unserer Gesellschaft ausgeschlossen und wer privilegiert wird - und mit welcher kollektiven Begründung.   Themenschwerpunkte: Feminismus, Männlichkeitsentwürfe, Syrien, Geflüchtete ,TV-Serien.   Promotion in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft zu: "Der Mann in der Krise - oder: Konservative Kapitalismuskritik im kulturellen Mainstream" (transcript 2008).   Seit 2010 Lehrauftrag an der Universität St. Gallen.

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