Spargelernte: Die letzte Brigade

Am Johannistag endet die Spargelsaison, und tausende polnische Spargelstecher kehren nach Hause. Sie waren hier wohl das letzte Mal.

Die Arbeit als Erntehelfer lohnt nicht mehr Bild: AP

Manchmal spricht der Spargel. Dann zischt die Erde, wenn das Messer in sie hineinstößt und jäh innehält. Ein Druck aus dem Handgelenk nach unten, und dumpf knackend löst sich die weiße Stange von der Dunkelheit, wird von Zdzislaw Trzeszczows linker Hand ins Helle gezogen. Rote Streifen durchziehen den Horizont. Die Sonne geht auf, sie wirft ein blasses Licht auf die Männer auf dem Acker. Tief vornüber gebeugt, still und stetig: So sticht man den Spargel.

Von weit her sind die Spargelstecher angereist ins brandenburgische Mötzow: aus Nowy Sacz, Warschau und Posen. Seit über hundert Jahren ist das so: Da halfen ihre Großeltern bei der Ernte von Zuckerrüben. Im Zweiten Weltkrieg wurden ihre Eltern als Zwangsarbeiter verschleppt. Und heute ernten sie Erdbeeren und Spargel; all jene Arbeit, die Deutschen zu mühselig und zu schlecht bezahlt ist.

Zdzislaw Trzeszczow mustert den knapp 200 Meter langen Bifang, den Erdwall, in dem der Spargel schlummert. "Man muss ein Gefühl dafür haben, was man nicht sieht. Spargel wächst mal lang, mal kurz. Ob gerade oder krumm: Mit einem Schnitt muss er heraus." Die Stangenspitze muss der Stecher erahnen, bevor sie die Erde durchbricht. Am Ende der Erdenreihe steht eine Thermoskanne mit einem Gebräu aus Wasser und Vitamintabletten. Bis zum nächsten Schluck sind es für Zdzislaw noch fünf Minuten, in denen er 1 Kilo Spargel sticht. 50 Cent wird er dafür später erhalten. Nach zehn Stunden auf dem Feld kommt er auf 60 Euro.

Spargelstechen ist Knochenarbeit. Gebückt stehen und immer wieder der kräftige Druck aus dem Handgelenk, "wer die ersten vier Tage übersteht, hält die ganze Saison durch", weiß Trzeszczow. Dann haben sich die Muskeln an die Dauerbelastung gewöhnt. In Polen entließ man den 48-jährigen Bergwerkssanitäter nach 25 Dienstjahren in den Ruhestand, das Geld aus der Erntehilfe braucht er für seine Tochter; die studiert Finanz- und Rechnungswesen in Krakau.

Noch zwei Meter bis zum Ende des Bifangs. Trzeszczows Messer stößt im Sand auf einen Stein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht umfasst er das Handgelenk. "Hier", ruft Dariusz Drozdzynski - und wirft ihm eine Rolle Tapepflaster zu. Das dämmt den Schmerz ein. Drozdzynski, der Landwirt, baut auf seinem Hof in Wloszakowice selbst Spargel an. Die beste Qualität verkauft er nach Deutschland, der Rest bleibt in Polen, erzählt er. Den Spargel daheim stechen für ihn Nachbarn. Noch. "Nächstes Jahr werde ich wohl Ukrainer oder Weißrussen anheuern, für Polen lohnt sich der Job kaum noch."

Spargel verlangt bei der Ernte Vorstellungskraft und Gefühl. Maschinen hierfür sind erst in der Entwicklung. Das bringt Heinrich Thiermann ins Grübeln. Keine zwei Kilometer vom Spargelfeld entfernt steht er vor dem weitläufigen alten Domstiftshaus, ist in Gedanken schon bei der Ernte im nächsten Jahr. 234 Hektar hat er hier mit Spargel bepflanzen lassen. In Niedersachsen sind es noch mehr, Thiermann ist Deutschlands größter Spargelbauer. "Woher wir die rund 1.000 Arbeiter zur Ernte im nächsten Jahr nehmen werden, weiß ich noch nicht", sagt er. Auf die Polen, weitaus die meisten seiner Helfer, wird er kaum noch hoffen können. Nur der unterbewertete Zloty verhalf in diesem Jahr noch zu einem Rekordzug aus Polen; bundesweit sind bis in den Mai 116.658 Männer und Frauen gekommen, um bei der Ernte von Spargel und Erdbeeren zu helfen. Experten sehen den Zloty im nächsten Jahr weit höher. Und nicht nur das.

"Die EU-Fördergelder sorgen für bessere Löhne in Polen", sagt Thiermann. Die Folge: mehr und besser bezahlte Arbeit in Polen selbst. "Da erscheint Spargelstechen weniger attraktiv." Schon jetzt lässt sich mit Waldarbeit in Skandinavien und Gewächshausernte in den Niederlanden leichter und schneller Geld verdienen. Und wenn ab 2011 die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland auch für Polen gilt, wird kaum einer von ihnen das Stechmesser auspacken wollen.

Schon jetzt fordert daher der Deutsche Bauernverband von der Bundesregierung, zügig Abkommen mit der Ukraine und Weißrussland auszuhandeln. An deren Bürger werden die Polen den Erntestab wohl abgeben. Thiermann tut das leid. Eine jahrzehntelange Tradition breche weg, sagt der 67-Jährige, wenn die Polen nicht mehr kommen. "Wir kennen uns schon so lange. Jede Woche lasse ich 120 Schweine schlachten, um ihnen ein ordentliches Mittagessen zu servieren."

Bis zur Pause um 12 ist es nur noch eine halbe Stunde. Aber die Zeit will einfach nicht voranschreiten. Auf Trzeszczows Ohren pellt sich die Haut. Ein Spargelstecher beendet die Saison braun gebrannt. "Ist wie Urlaub", scherzt Trzeszczow. Er muss sich beeilen, in der Mittagssonne errötet der Spargel und verliert an Wert. Müde schiebt er eine schwarze Plastikplane auf, wühlt mit Zeige- und Mittelfinger ein Loch um die weiße Stange. Der rasche Stich. Der Spargel landet in einer einrädrigen Metallkarre; ein Strichcode an ihr wird am Ende des Tages registrieren, wie viel Kilo Trzeszczow geerntet hat. Am Ende der Saison, nach zwei Monaten, wird er fast 1.000 Kilometer gelaufen sein.

Acht Stunden später sind die ersten der Brigade angetrunken. Es ist 20 Uhr, die Busse mit den Erntehelfern sind von den Feldern zurückgekehrt, in die ehemalige Kaserne der DDR-Fallschirmspringer am Rande von Kloster Lehnin. Über 1.000 Polen leben hier während der Saison. Inmitten der Quartiere aus rohen Betonplatten steht eine Halle. Wind pfeift durch die Ritzen. Hinter einer wuchtigen Kasse sitzt eine kleine, schmale Frau. Ihren Namen möchte sie nicht nennen. 34 Jahre lang hatte ihre Familie einen Einkaufsladen. Doch dann entzogen ihr vier neue Discounter im 3.000-Seelen-Örtchen die Kundschaft. Nun verkauft sie zwei Monate im Jahr Alkohol, Nüsse, Vitamintabletten, Brot und Wurst an die polnischen Spargelstecher.

Sparen auf ein Notebook

Für Dariusz Drozdzynski war es ein guter Tag. "170 Kilo habe ich heute gemacht", sagt der 41-Jährige stolz, stippt genüsslich einen Keks in das Glas Cola. Im Zimmer 319 in Haus 42 sitzt er allein am Tisch. Seine anderen drei Schlafnachbarn im zwölf Quadratmeter großen Zimmer liegen in ihren Betten. Es ist 21 Uhr. Zbigniew Sieradzki, mit 48 Jahren der Älteste auf der Bude, schnarcht. Jacek Policht, 34, starrt stumm an die Decke, leise rauscht Musik aus seinem MP3. Zweimal hat Policht heute telefoniert mit seiner Liebsten und drei SMS verschickt. Die jüngste seiner zwei Töchter hat Angina. Gesehen hat er sie seit Wochen nicht. "Würde ich fürs Wochenende die 400 Kilometer fahren, ich käme nicht mehr zurück."

Über Policht springt Tomasz Pobin aus dem Etagenbett. Das macht er alle zehn Minuten, heute ist Fußball, und unten im zweiten Stock hat einer ein Radio. Jacek Policht seufzt, setzt sich auf. Einen Notebook-Computer will er sich vom Lohn kaufen. "Ich bin in Polen gerade arbeitslos geworden. Sobald ich einen Job habe, komme ich nicht mehr hierhin." Pobin stürmt wieder herein, in der Hand ein Bier. "Stimmt, stimmt, stimmt", sagt der 20-Jährige: Auch er ist arbeitslos, spart für einen Laptop - und sieht sich im kommenden Jahr eher in einem Büro für Außenhandel statt auf dem Spargelfeld. Drozdzynski prostet mit der Cola zu: "Ich fälle dann Bäume in Schweden." Policht legt sich wieder hin. "Du wartest auf den Moment, das Herz schlägt wie verrückt, jetzt habe ich verstanden, wofür ich lebe", singt sein Lieblingssänger Seweryn Krajewski aus den Kopfhörern.

Die Nächte in Kloster Lehnin sind kurz. Um vier in der Früh legt Trzeszczow einen Topf mit gehender Hefe unter die Bettdecke. Am Abend wird er wieder Brot backen. Deutsche Teigware gefällt ihm kaum, auch nicht die Wurst. "Zu viel Chemie." Seine Zimmergenossen schärfen ihre Messer am großen Schleifblock. Trzeszczow hat ihn mitgebracht und auch Bigos und Schmalz in Einmachgläsern - alles selbst gekocht. Noch ein Ruck am Nierengürtel. Draußen hupt schon der Bus.

Wie auf einer Klassenfahrt geht es bei den 20 Kilometern zum Spargelfeld zu. Die 40 Männer lachen und scherzen. "Hey, Tommek", ruft einer von ihnen dem Fahrer zu, "fahr mich bitte zum Frühstücken ins Café de Paris und danach zum Louvre!" Auf den letzten zwei Kilometer verstummt die Reisegesellschaft. Schmerzgel wird herumgereicht für Ellenbogen und Handgelenk. Einer bandagiert seinen ganzen Unterarm mit einer Binde. Trzeszczow klebt Tapepflaster auf seinen rechten Handschuh. Die Männer laufen los.

Zdzislaw Trzeszczow

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