Genosse „grumpy old man“ aus Dortmund

Westliches Westfalen als sozialdemokratische Lebensform: Hermann Heinemann, Ex-Chef des untergegangenen größten SPD-Bezirks der Welt, ist tot

„Angela Merkel ist das durchtriebenste Weib, was in Berlin herumläuft“

VON MARTIN TEIGELER

Hermann Heinemann war der grumpy old man der NRW-SPD. Ein alter, kauziger Mann, der keinem Streit aus dem Weg ging. Egal ob Parteireform oder Agenda 2010 – der gebürtige Dortmunder tappte als Polit-Rentner nie in die Hans-Jochen-Vogel-Falle und begab sich auch nicht in die Erhard-Eppler-Ecke. Statt sich mit Veteranen-Autorität als Totschlag-Argumentierer der Parteiführung anzudienen, legte sich Heinemann bis zuletzt immer wieder mit der SPD an.

Als in der NRW-SPD längst rhetorische Amateure das Ruder übernommen hatten, fiel es dem geschulten Versammlungsredner Heinemann umso leichter, routinierte Parteitage und müde Delegierte für sich zu interessieren. Wenn Heinemann sprach, wurde es bis zum Schluss still im Saal. Seine durch ein Lungenleiden kurzatmig gewordene Stimme konnte immer noch laut werden, etwa im Juni 2004, auf dem Höhepunkt der Agenda-2010-Krise in der SPD. Heinemann brachte eine aufmüpfige Regionalkonferenz in Hagen zum Kochen, die der damalige Neu-Parteichef Franz Müntefering nicht hatte disziplinieren können. Der Weißhaarige mahnte zunächst eine stärkere Besteuerung der Vermögenden an und forderte danach zum Kampf gegen die konservativ-neoliberale CDU auf: „Angela Merkel ist das durchtriebenste Weib, was in Berlin herumläuft.“

Auch bei seinem letzten Zeitungsinterview vor gut fünf Wochen war die politische Leidenschaft bei Heinemann ungebrochen. Gerade erst hatte er das Krankenhaus verlassen, als die SPD im Bund in eine große Koalition unter einer Kanzlerin Angela Merkel einwilligen musste. „Armes Deutschland. Ich bin sicher, dass Frau Merkel das nicht kann. Das ist eine schlechte Lösung für Deutschland“, sagte er der taz. Seiner Partei empfahl er einen anderen „Umgang mit den Besitzenden in dieser Gesellschaft“. Die SPD machte daraus die „Reichensteuer“.

Heinemanns Karriere begann für einen Sozialdemokraten standardgemäß (siehe Kasten) und erreichte ihren Höhepunkt auf einem festen Areal. Heinemanns Revier war das Westliche Westfalen (WW), der alte, mit damals fast 150.000 Mitgliedern größte SPD-Bezirksverband der Welt. Die westfälische Spielart des rheinischen Kapitalismus – Ausbau des BRD-Wohlfahrtsstaats wegen „Wirtschaftswunder“ und trotz Strukturkrise im Ruhrpott – gestaltete er politisch. WW war ein sozialdemokratischer way of life, den Heinemann als Bezirkschef lebte. Sein Job: Kümmern, die Interessen der abhängig Beschäftigten vertreten, dafür Mehrheiten in der SPD sichern. Für Gegner dieser Politik wandelte Heinemann auf „rotem Filz“, die Wählerschaft sah es anders. Nicht zufällig wird Heinemann in der eben posthum erschienenen Autobiographie des ehemaligen Parteimanagers Peter Glotz als einer jener Bezirkschefs angeführt, mit denen sich Willy Brandt regelmäßig absprach.

In ein Regierungsamt gelangte Heinemann erst 1985, als sich schon das Ende der großen Zeit der SPD in NRW ankündigte. Während Massenarbeitslosigkeit und Strukturwandel das gesellschaftliche Fundament der NRW-SPD zerfraßen, amtierte Heinemann in Düsseldorf als Landessozialminister. Im Kampf gegen die neue Krankheit AIDS warb er für die Nutzung von Präservativen, was ihm den Spitznamen „Kondom-Hermann“ einbrachte. Unter seiner Ägide wurde in Nordrhein-Westfalen das bundesweit beachtete Modellprojekt zum Einsatz der Ersatzdroge Methadon gestartet. 1992 trat er nach einer Affäre um die Millionen-Förderung eines Bochumer Medizin-Forschungszentrums zurück. Ein Untersuchungsausschuss entlastete Heinemann später von Filzvorwürfen.

Den letzten großen Konflikt mit seiner Partei verlor Heinemann 2001. Gegen seinen Willen beschloss die SPD eine Parteireform – und das Ende des Bezirks WW. Heinemann verweigerte sich der vermeintlichen Modernisierung und sagte, er sei stolz darauf, ein Traditionalist zu sein. Vier Jahre später verlor die SPD die Macht im bevölkerungsreichsten Bundesland. Am Dienstag ist Hermann Heinemann nach langer Krankheit im Alter von 77 Jahren gestorben.