Ein Härtefall ohne Gnade

In Marl protestieren BürgerInnen gegen die Abschiebung einer Familie, die seit 20 Jahren hier lebt. Die NRW-Härtefallkommission ist machtlos: Die Stadt muss sich nicht an ihre Empfehlung halten

VON NATALIE WIESMANN

Familie Eke aus Marl steht kurz vor der Abschiebung in die Türkei – nach 20 Jahren Aufenthalt in Deutschland. Weil die fünfköpfige kurdisch-libanesische Familie bei der Einreise teilweise falsche Personalangaben machte, entzog ihr die Ausländerbehörde vor einigen Jahren die Aufenthaltsberechtigung. Der Vater kann bleiben, weil er mit einer deutschen Frau ein Kind hat. Der Rest der Familie soll noch vor Weihnachten ausreisen. Ihre letzte Hoffnung ist ein kurzfristig gestellter Antrag an die Härtefallkommission des Landes – doch die Bürgermeisterin Ute Heinrich will deren Entscheidung nicht abwarten.

„Die Bürgermeisterin pfeift auf die Empfehlung der Kommission“, empört sich Anita Wolschendorf, Flüchtlingsreferentin des Evangelischen Kirchenkreises Recklinghausen. In einem Gespräch Anfang der Woche habe ihr die Stadtchefin gesagt, sie sehe keinen Sinn darin, die Entscheidung der Härtefallkommission abzuwarten: „Selbst wenn diese zugunsten der Familie entscheidet, will sie sich nicht daran halten.“

Familie Eke ist ein typischer Fall für die Härtekommission: Die vier Kinder können kein Türkisch. Dafür sind die beiden jüngsten Töchter (13 und 17 Jahre) besonders gut in Marl integriert: „Sara und Hanida sind die besten in ihrer Klasse“, sagt ihr Rektor Klaus Jahn. Sara gewann die Kreismeisterschaft mit ihrem Fußball-Verein, Hanida strebt das Abitur an. „Ihre Klassenkameraden stehen unter Schock.“ Hanida sorgt sich vor allem um ihre Mutter. „Sie ist krank und kann ohne Krücken nicht laufen“, sagt sie. Sie selbst könnte seit Wochen vor Angst nicht schlafen.

Am ersten Dezember will sich die Härtefallkommission mit dem Fall befassen. Doch egal wie die Entscheidung ausgeht: „Keine Ausländerbehörde ist an unsere Empfehlung gebunden“, sagt Volker Maria Hügel, Mitglied der Kommission. Im Gegenteil zu anderen Bundesländern hätte im NRW-Modell das Innenministerium nicht die Aufgabe, ein von der Kommission empfohlenes Bleiberecht anzuordnen. „Das Innenministerium hat sich vor der Verantwortung gedrückt“, kritisiert Hügel.

Das Zuwanderungsgesetz von 2005 gibt den Ländern die Möglichkeit, eine Härtefallkommission einzurichten – dem ist Nordrhein-Westfalen gefolgt. Von der alten Kommission, die das Land 1996 freiwillig eingerichtet hatte, unterscheidet sich die neue vor allem darin, dass sie auch Härtefälle über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus bestimmen kann – eigentlich ein Fortschritt. „Wir haben immerhin 79 Fälle, die aufgrund von besonderer Härte ein Bleiberecht erhielten“, so Hügel.

Für Kritiker reicht das nicht: „Ich glaube nicht, dass die Kommission jetzt mehr Erfolge verbucht wie früher“, so Behushid Najafi von der Kölner Beratungsstelle für Migrantinnen „agisra“. Sie hatte der Vorgänger-Kommission zwei Jahre lang angehört und ist dann aus Protest ausgetreten. „Die Arbeit und die Erfolge standen in keiner Relation.“ Heute schreibe sie selbst Anträge für Migrantinnen an die Härtefallkommission – kein Fall wurde bisher positiv beschieden.

Die MitschülerInnen und LehrerInnen der Töchter und weitere BürgerInnen wollen heute unter dem Motto „Kurz vor zwölf“ einen Protestmarsch zum Rathaus machen. „Es ist höhnisch, dass Marl damit wirbt, keinen Platz für Rassismus zu haben“, so Schülersprecher Max Malkus. Seine Mitschülerin Hanida in ein Land abzuschieben, dass sie nicht kennt, das sei für ihn Rassismus. Im Auftrag des Jugendforums Marl hat er die Stadt aufgefordert, den Kindern wenigstens zu ermöglichen, ihre Schullaufbahn abzuschließen.

Derweil scheint die Bürgermeisterin Heinrich zurückzurudern: Denn kurz vor Redaktionsschluss wollte sie wohl auf Druck der empörten BürgerInnen doch die Entscheidung des Gremiums abwarten. „Dann will sie noch einmal darüber nachdenken“, so ihr Sprecher zur taz.