Keine Zeit für Hausbesuche

Sozialdienst-Mitarbeiter: 600 bis 700 Fälle von Kindesverwahrlosung pro Jahr. Geheimpapier der Bezirke fordert knappe Million Euro, um vakante Stellen zu besetzen

Die Aussage von Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU), die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) seien besser ausgestattet denn je, steht auf wackligen Füßen. Nachdem am Mittwoch die taz aufdeckte, dass die Senatorin falsche Zahlen verglichen hatte, veröffentlichte die Gewerkschat ver.di gestern den internen Abschlussbericht einer Arbeitsgruppe von Bezirken, Sozial- und Finanzbehörde, der vom Senat fordert, die ASD zum „Schonbereich“ zu machen und alle vakanten Stellen zu besetzen. Die dafür nötigen 887.697 Euro solle der Senat aus dem Gesamthaushalt bereitstellen, was durch eine „entsprechende Drucksache“ Schnieber-Jastrams vorbereitet werden müsse.

Dieser „Bericht von Arbeitgeberseite“ bestätige, dass die anfallende Arbeit der ASD „mit bestehendem Personal nicht zu schaffen“ sei, erklärte ver.di-Sekretärin Sieglinde Friess. Dem Papier zufolge gab es im Juni in den 26 ASD-Dienststellen real 244,96 besetzte und 22 vakante Stellen, was nur leicht von den Vorjahren abweicht. Beträchtlich gekürzt, so ver.di, wurde aber in den 90er Jahren. Dringend nötig sei eine Personalbedarfsmessung, die es für die ASD aber nie gegeben habe. Nach ersten Schätzungen gehe man von einer Überlastung von 140 Prozent aus, so der Personalrat Thomas Auth-Wittke.

Auf Einladung von ver.di schilderten gestern vier ASD-Mitarbeiter der Presse ihre Situation – anonym, da sonst disziplinarische Konsequenzen drohten. Ihr Hauptproblem: Zeit für präventive Arbeit mit Familien bleibe keine, statt dessen müssten sie als „Fallmanager“ die teueren Hilfen zur Erziehung (HZE) regeln. „Wir sind immer mehr Verwaltungsmenschen. Unsere Arbeit kommt nicht zum Tragen“, klagte da Hartmut Engel*. „Wir sitzen vorm Computer“, ergänzte Kollegin Anja Schmidt*. Zeit für Hausbesuche bei Familien bleibe ihr bei ihren 80 Akten nicht. Für die Bewilligung einer HZE müsse sie eine fünfseitige Problemanalyse verfassen. „Und dann geht das noch die Hühnerleiter hoch.“ Neue Anforderungen, etwa die der SPD, bei allen abgeschlossenen Fällen nach einem halben Jahr nochmals Kontakt aufzunehmen, seien illusorisch.

Die jüngsten vier Fälle von Kindern, die verwahrlost in vermüllten Zimmern gefunden wurden, führten bei den Kollegen zu einer „permanenten Angst“, weitere Kinder zu übersehen, sagt ASD-Mann Werner Otto*. Es gebe aber allein bei ihm jährlich „zwei bis drei Fälle dieser Art“. Anderen Kollegen gehe ebenso, weshalb er hamburgweit 600 bis 700 Fälle vermutet. In Sorge sei er darüber, dass die ASD im Zuge der aktuellen Debatte nur als „Einrichtung, die die Kinder wegnimmt“, bekannt würden – und als „Kinderklauer“ noch weniger Zugang zu Familien fänden. Kaija Kutter

* Name geändert