die wahrheit: Foltern mit Betäubung
Zu Besuch bei einem Treffen der Anonymen Henker.
Wir befinden uns in Fulda an einem gewöhnlichen Sommernachmittag des Jahres 1604. In einer alten Scheune sitzen elf Männer mit roten Masken auf dreibeinigen Schemeln im Kreis und spielen unentschlossen mit Beilen, glühenden Zangen und Daumenschrauben vor sich hin. Die Stimmung ist gespannt, als das Scheunentor sich plötzlich öffnet und ein weiterer Maskierter, der eine Spanische Spinne bei sich trägt, eintritt und sich in die Mitte des Kreises stellt. Er schluckt nervös, er zögert, dann fasst er sich ein Herz und spricht laut und mit klarer Stimme die Worte: "Ich bin der Ingo, und ich bin Henker." Applaus erklingt, und elffach tönt es fröhlich zurück: "Herzlich willkommen, Ingo, das war jetzt sehr mutig von dir!"
Schauplatz der Geschichte ist eines der wöchentlichen Treffen der Anonymen Henker. Das ist eine Gemeinschaft von Scharfrichtern und deren Angehörigen, die durch das gemeinsame Gespräch Erleichterung oder Zuspruch suchen bei der oft anstrengenden und manchmal auch unangenehmen Ausübung ihres Berufes.
"Wir duzen uns hier alle und nennen uns beim Vornamen", erklärt uns einer der Maskenmänner, der sich uns als Uwe vorstellt. Warum er zu den Anonymen Henkern gefunden hat, wollen wir von Uwe wissen. Und Uwe beginnt bereitwillig, uns seine Geschichte zu erzählen:
"Anfangs ging es mir einfach um einen soliden und krisensicheren Job. Als ausgebildeter Henker hat man immer gut zu tun, die Tätigkeit ist abwechslungsreich und wird nie zur Routine. Es gibt ja so viele verschiedene Möglichkeiten, den Gottlosen Geständnisse zu entlocken. Aber mit der Zeit merkte ich dann doch, dass die Arbeit manchmal ganz arg anstrengend ist. Immer öfter kam es vor, dass ich Mitleid mit den Ketzern und Hexen empfand. Und schon beim Zeigen der Instrumente konnte ich selbst kaum hinsehen. Huh, wie grausig!" Ein zustimmendes Raunen geht durch die Runde. "Ich war mir einfach nicht mehr sicher, ob ich das Richtige tue", fährt Uwe fort. "So fasste ich den Entschluss, mich den Anonymen Henkern anzuschließen." Ein Strahlen geht über Uwes Gesicht, als sagt: "Und seither geht mir der Job wieder richtig leicht von der Hand, ich habe hier so viele, tolle Tipps bekommen, die Arbeit macht wieder richtig Spaß."
Wir fragen nach, was sich denn genau geändert habe, seit Uwe regelmäßig die AH-Treffen besucht. "Nun ja", lacht er, und auch die anderen Maskierten wirken fröhlich, "zum Beispiel wurde mir erst hier in der Gruppe klar, dass die Folter ja dem Kunden nicht unbedingt wehtun muss. Leider ist man mit einer solchen Einstellung in der Gesellschaft gebrandmarkt." Wir sind ganz erstaunt, das interessiert uns nun wirklich, und wir fragen nach. Ein anderer Henker namens Hubi erklärt: "In meinem Studio fragen wir den Klienten, ob er die Hochnotpeinliche Befragung gerne mit Betäubung oder ohne haben möchte. Und was glauben Sie, die meisten hätten es gerne mit Betäubung. Seit wir diesen Service anbieten, geht es bei den Sitzungen, vor allem bei denen mit der Streckbank, viel entspannter zu."
Allgemeines Gelächter tönt durch den Raum. Die Anonymen Henker scheinen ein wahrhaft fröhliches Völkchen zu sein.
Nun meldet sich ein Klaus zu Wort: "Bei uns können die Ketzer, die sich für eine Betäubung entscheiden, zwischen Vollnarkose und örtlicher Betäubung wählen. Wobei ich eigentlich von der Vollnarkose meistens abrate, denn man fühlt sich nach dem Aufwachen oft noch stundenlang wie gerädert. Vollnarkose ergibt nur einen Sinn, wenn wir beispielsweise mit der Eisernen Jungfrau arbeiten. Beim Einsatz von Glühenden Zangen oder Daumenschrauben reicht auch eine örtliche Betäubung."
Zum ersten Mal seit Beginn der Sitzung erhebt sich nun Ingo, der Neuling, der bisher nur schweigend zugehört hat: "Also, ich bin der Meinung, bei Glühenden Zangen ist eine Betäubung durch Hypnose am sinnvollsten, weil der Kunde bei einer einfachen örtlichen Betäubung doch zu sehr einer starken Geruchsbelästigung ausgesetzt ist."
Die anderen klatschen und nicken Ingo, der sich leicht errötet wieder auf seinen Schemel setzt, aufmunternd zu. "Das war ein sehr wertvoller Beitrag zu unserer Diskussion von dir, Ingo", lobt Hubi ihn. Auf unsere Nachfrage bestätigt uns Klaus: "Nun ja, es ist schon wahr, dass die Zahl der Geständnisse, mit dem Teufel im Bunde zu sein, bei dieser alternativen Foltermethode nicht ganz so hoch ist wie unter der Schulfolter. Aber dafür kommen die Kunden viel lieber zu uns als früher und sie gestehen nicht schon alles, bevor wir sie überhaupt zu Gesicht bekommen. Das belebt das Geschäft."
Abschließend bedankt sich Ingo bei der Gruppe: "Es ist ein gutes Gefühl, dass es auch andere Henker wie mich gibt. Vielen Dank." Und Ingo weiß schon jetzt, dass er am nächsten Treffen wieder teilnehmen wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Krise der Ampel
Lindner spielt das Angsthasenspiel