Sigmar Gabriel: Vom Lautsein geläutert

Der neue Hoffnungsträger der SPD ist schnell aufgestiegen. Und genauso schnell wieder gefallen. Jetzt bekommt Sigmar Gabriel seine zweite Chance.

Muss nicht länger beten: Sigmar Gabriel wird Parteichef. Bild: dpa

GOSLAR/HANNOVER taz | Es ist Dienstagnachmittag, als sich auf der Fraktionsebene des Berliner Reichstags der Fahrstuhl öffnet. Dicht gedrängt stehen die Abgeordneten, auch der neue Retter ist dabei. "Ein Wort bitte, Herr Gabriel", rufen ihm die Journalisten entgegen. Doch Sigmar Gabriel tut etwas, das er selten getan hat in den letzten Jahren: Er schweigt.

Keine zwei Tage waren zu diesem Zeitpunkt vergangen, nachdem die SPD mit 23 Prozent das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte bei einer Bundestagswahl erhalten hatte. Und weil Sigmar Gabriel in seinem ostniedersächsischen Wahlkreis Wolfenbüttel fast doppelt so viele Stimmen holte und noch einige andere Umstände gepasst haben, soll er nun die SPD aus ihrer tiefen Krise führen.

Heute wird der Parteirat den Weg dafür frei machen, dass Gabriel im November zum neuen Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten gewählt wird. Zum 14. Parteichef der Nachkriegszeit. Zum Nachfolger von Willy Brandt. Er ist dann oben angekommen in einer politischen Karriere, die ihn schnell aufsteigen und bald danach jäh abstürzen ließ.

Doch, wer ist dieser Sigmar Gabriel?

Kindheit: Gabriel wurde am 12. September 1959 in Goslar geboren, seine Eltern ließen sich scheiden, als Gabriel ein kleines Kind war. Nach dem Besuch der Realschule machte er auf dem Ratsgymnasium Goslar 1979 Abitur.

Ausbildung: Nach dem Abitur studierte er in Göttingen auf Lehramt Deutsch, Politik und Soziologie und wurde nach dem Referendariat in Goslar Berufsschullehrer beim Bildungswerk Niedersächsischer Volkshochschulen in Goslar.

Politik: 1976 trat er der SPD-nahen Jugendorganisation "Die Falken" bei, 1977 der SPD. 1990 zog Gabriel in den niedersächsichen Landtag ein, 1999 bis 2003 war er dort Ministerpräsident. In der letzten Legislaturperiode war Gabriel Bundesumweltminister.

In Goslar sitzt Bernd Schmidt im Raum A-1-08 am Lehrerpult, wie schon 1977, als er gerade neu ans Ratsgymnasium gekommen ist. Er schaut auf den Platz links vor sich, wo "der Sigmar" bei ihm im Grundkurs Analytische Geometrie rechnen musste. Im selben Jahr wechselte Sigmar Gabriel, ein ohne Vater aufgewachsenes Scheidungskind, von der Realschule ins Ratsgymnasium. "Er war sehr ehrgeizig", erinnert sich der 65-jährige Lehrer, "man spürte, dass seine Kindheit ihn hart gemacht hat."

Es gab eine Verbindung zwischen beiden Neulingen, die im konservativen Ratsgymnasium Außenseiter waren. Schmidt, der 68er im Pulli, und Siggi, der Falke, der in der Jugendorganisation am Lagerfeuer linke Theorien diskutierte. Im Lehrerzimmer hatten sie bald für beide einen Spitznamen: "Pullover-Schmidt" und "der rote Siggi".

Einmal schrieb Gabriel eine Arbeit über Ebenen im Raum, "nicht berauschend, vielleicht eine Vier", sagt Schmidt. Aber er gab ihm eine zweite Chance und ließ ihn ein Referat ausarbeiten. Note diesmal: sehr gut. "Sigmar war mündlich immer besser als schriftlich", sagt Schmidt, "und konnte sich schnell in Themen einarbeiten."

Es passt zu den ersten Eindrücken, die seine politischen Weggefährten von ihm sammelten. Als Gabriel 1990, zwei Jahre nach seinem Staatsexamen als Deutschlehrer, in den niedersächsischen Landtag einzieht, traut ihm sein Fraktionskollege Heiner Bartling nicht viel zu. Für ihn war Gabriel "einer, der viel erzählt und wenig versteht", ein "Dampfplauderer".

Doch Gabriel kämpft. Er besticht als Redner und attackiert, gilt als ehrgeizig. So wie im Tanzverein TSC Schwarz-Gold in Goslar, mit 16 Jahren. Victor Ratkovic, der heute den Familienbetrieb leitet, erinnert sich, dass Gabriel mitten in einer Saison vor ihm stand, "mit ein paar Kilo Übergewicht". "Er hatte ja schon immer Probleme mit dem Gewicht." Ratkovic nahm ihm sein Startbuch weg. "Siggi sollte erst ein paar Kilo abnehmen, bevor ich ihm seine Turniererlaubnis wiedergebe." Nach vier Wochen stand Gabriel in der Tanzschule, in den Händen eine Waage. Gabriel legte sie auf den Boden und präsentierte stolz das Ergebnis. "5, 6 Kilo hatte er weniger drauf", erinnert sich Ratkovic, "wenn er etwas erreichen wollte, hat er es auch geschafft."

Auch der Politiker Sigmar Gabriel arbeitet sich Stück für Stück nach oben. Als Gerhard Schröder 1998 Bundeskanzler wird und sein Nachfolger Gerhard Glogowski nach nur einem Jahr über eine Affäre stolpert, wird Gabriel mit noch nicht einmal 40 Jahren der jüngste Ministerpräsident Niedersachsens.

Es werden Lehrjahre für Gabriel, der sich bei vielen Themen nicht auf eine Position festlegen will. Mal ist er für die Vermögensteuer, mal dagegen. Mal für Schröder, mal gegen ihn. Er versucht, sich von seinem Lehrmeister zu emanzipieren, mit dem er oft verglichen wird. Je schlechter die Umfragen stehen, desto unberechenbarer wird er. "Er war nervös", erinnert sich sein damaliger Kabinettskollege Heiner Bartling, "seine Entscheidungen wurden sprunghaft".

Seinen Mitarbeitern gegenüber tritt Gabriel zuweilen wie ein Gutsherr auf. Er schreit herum, wenn jemand nicht so handelt, wie er will - und schaltet dann unvermittelt wieder auf freundlich. "Er wirkte manchmal wie ein verwöhntes Blag", erinnert sich ein Parlamentskollege, "ihm fehlte die gute Kinderstube".

An einem Abend steht Olaf Heidcke an der Bar seines Parlamentsrestaurants "Leinegaststätte" in Hannover, als Sigmar Gabriel wutschnaubend an ihm vorbei in die abgetrennte "Präsidentensuite" steuert. Eigentlich hatte er Gabriel immer als netten Menschen wahrgenommen, "er hat mich auch mit Namen gegrüßt", erinnert sich der Restaurantbetreiber. Doch an diesem Tag reicht selbst die schwere Glastür der Präsidentensuite nicht mehr aus, um die Wut Gabriels in dem Raum zu halten. "Er hat furchtbar herumgeschrien", sagt Olaf Heidtke, "das Servicepersonal hat sich nicht mehr in den Raum gewagt". Am Ende des Abends schleichen 25 Parteikollegen gebeugt davon.

2003 endet der Pachtvertrag von Olaf Heidtke im Leineschloss, und auch Sigmar Gabriel hat Probleme in seinem ersten Wahlkampf als Regierungschef. Wirtschaftlich sieht es nicht gut so aus, die Arbeitslosigkeit ist hoch, in Berlin bereitet Kanzler Schröder gerade die Agenda 2010 vor. Keine guten Zeiten für einen SPD-Nachwuchsmann.

Bei der Landtagswahl erhält Gabriel 33,4 Prozent der Stimmen, 14,5 Prozentpunkte weniger als fünf Jahre zuvor Gerhard Schröder, von dem er "sich die Sitzhaltung abgeschaut hatte", wie Restaurantbesitzer Heidtke erzählt. Die CDU übernimmt die Macht in Hannover, Gabriel wird Oppositionsführer. Und weil er meint, er könne die Jugend begeistern und habe ja einen guten Draht zu den Scorpions, wird er zum ersten Pop-Beauftragten der Sozialdemokraten ernannt. Er ist jetzt mit gerade einmal 43 Jahren der ehemalige Hoffnungsträger der SPD.

Er ist jetzt Siggi Pop.

Es müssen schwere Jahre für Gabriel gewesen sein. "Vielleicht hatte er den Eindruck, er könnte da etwas tun", sagt Heiner Bartling, "aber mit dem Amt wollte ihn doch jemand in der SPD vereimern". Er führte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Gespräch mit der Band "Wir sind Helden", in dem er wissen wollte, was er denn tun könne für die Band und die moderne Musik. Am Ende fragte er, ob die Band denn im Gegenzug auch mal bei einem Konzert gegen rechts spielen würde. Vom polternden Ministerpräsidenten war nichts mehr zu spüren. Es war ein kleinlautes Interview, vielleicht sogar ein sympathisches. Gabriel wusste, dass die Zeit der lauten Töne vorbei war.

Dennoch trug er das Manko des Lautsprechers mit sich herum, der sich für jedes Amt qualifiziert fühlt und der auf politische Lager nicht viel Wert legt. Als Gabriel 2005 in den Bundestag einzieht und Umweltminister wird, schließt er sich den SPD-Netzwerkern an. Für die Parteilinken ist er damit endgültig verbrannt. Ein Umweltminister bei den opportunistischen Netzwerkern? "Ein taktischer Fehler", sagt ein Fraktionskollege. Das Vorurteil war bestätigt: Gabriel, der prinzipienlose Lautsprecher.

Er wusste: Wenn er politisch noch etwas werden wollte, dann muss er fortan stillhalten - und tat es. Gabriel arbeitete sich in Emissionswerte ein, prägte den Begriff der ökologischen Industriepolitik und hörte zu, statt zu kommentieren.

Er schaffte es, bei Klimaverhandlungen zu einem international geachteten Gesprächspartner zu werden. Auch in Deutschland schob Gabriel das vermeintliche Randthema immer wieder in den Vordergrund. Gabriel in der Asse, Gabriel in Gorleben, Gabriel am Atomkraftwerk Krümmel - alles vor den Fernsehkameras mit Helm und Schutzanzug in Szene gesetzt.

Gabriel entdeckte sein Talent zur Inszenierung wieder, das ihn schon in seiner Anfangszeit als Politiker ausgezeichnet hatte. So lud er einmal als neuer innenpolitischer Sprecher der niedersächsischen der SPD-Fraktion einen italienischen Mafia-Jäger zu einer Polizeischulung ein. Zu der spröden Schulung kamen plötzlich Kamerateams aus allen Winkeln des Landes. "Er hatte immer ein Auge dafür, dass eine Veranstaltung auch öffentlich wahrgenommen wird", sagt sein Weggefährte Heiner Bartling.

Vielleicht ist das schnelle Umschalten, das Erkennen einer Situation die große Stärke Gabriels. Der Instinkt für die richtige Handlung zur richtigen Zeit. Einmal tanzte er mal bei einer Landesmeisterschaft in Wolfsburg. Die Paare wirbelten kreuz und quer durch den Saal, sie standen sich auf einmal fast auf den Füßen, weil alle in eine Richtung getanzt sind. "Plötzlich machte Sigmar als Einziger eine Kehrtwendung", erinnert sich Ratkovic, "er hatte fast die ganze andere Hälfte des Saals für sich."

Es ist jener Instinkt für die Situation, sein Kampfeswille, der manche Parteikollegen glauben lässt, dass er jetzt der Richtige sein könnte für die SPD. Die stillen Diplomaten hatten ihre Chance.

Jetzt kommt der rote Siggi, der lange ruhig geblieben ist, und sogar nach der Wahl im Aufzug geschwiegen hat. Doch damit dürfte es bald vorbei sein. Er ist nun oben. Siggi Chef.

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