Eine Opfermythologie

Erich Später analysiert engagiert die Kontinuität völkisch-rassischer Ideologie in der Sudetendeutschen Landsmannschaft

Die Selbstentschuldung vieler Deutscher nach dem Ende des Nationalsozialismus ist kein neues Phänomen. Sie ist ein in regelmäßigen Intervallen wiederkehrender Vorgang. Mancher Autor hat deshalb bereits aufgegeben und aufgehört, dagegenzuhalten.

Erich Später, das zeigt sein neues Buch über die Sudetendeutsche Landsmannschaft, gehört nicht dazu. Später holt beschreibend zurück, was Funktionäre von Landsmannschaften und Vertriebenenverbänden immer wieder aufs Neue ausblenden wollen: ihre tiefe Prägung durch das nationalsozialistische Konzept der rassischen Neuordnung Europas.

Eine reine Organisationsgeschichte der Sudetendeutschen Landsmannschaft erwartet den Leser hier jedoch nicht. Ihre Entwicklung wird in den historischen Kontext eingebettet. So beleuchtet Später die Zerstörung der Tschechoslowakei, die von der NSDAP 1938/39 bewusst herbeigeführt wurde, ebenso wie die brutale Mord- und Repressionspolitik der Deutschen während der Okkupation und die Integration der Vertriebenen sowie ihrer Organisationen in den westdeutschen Nachkriegsstaat.

Erich Später zeigt, dass bereits seit der Gründung der demokratischen Tschechoslowakei 1918 größere Teile ihrer deutschsprachigen Minderheit die Zerschlagung dieses Staates und den Anschluss des „Sudetenlandes“ an das Deutsche Reich anvisierten. Die Demokratie und die Minderheitenrechte für die verschiedenen Nationalitäten in der demokratischen ČSR waren ihnen ein Dorn im Auge.

Unmittelbar nach der deutschen Okkupation begann im „Reichsgau Sudetenland“ sowie im „Protektorat Böhmen und Mähren“ die Zerschlagung der demokratischen Opposition und die Ermordung von jüdischen und nichtjüdischen Tschechen. Ihr Eigentum wurde in großem Maße von Deutschen geraubt, übernommen und kontrolliert.

Die am Ende des Krieges beginnende Vertreibung der deutschen Bevölkerung, die mehrheitlich loyal zum Nationalsozialismus gehalten hatte, war deshalb die voraussehbare Folge der deutschen Barbarei. Der ethnische Furor deutscher Herrschaft schlug mit aller Gewalt auf seine Erfinder zurück. Die Vertreibung wurde deshalb auch von der Anti-Hitler-Koalition im Potsdamer Abkommen von 1945 geduldet und legalisiert.

Wie Später in seiner Studie zeigen kann, war eine nicht unerhebliche Zahl der Nachkriegsfunktionäre der Sudetendeutschen Landsmannschaft selbst führend an der Zerschlagung der demokratischen Tschechoslowakei und an der „rassischen Neuordnung“ beteiligt: „SS-Sturmbannführer“ und „NSDAP-Kreisleiter“ sind keine ungewöhnlichen Funktionsbezeichnungen in ihren Lebensläufen.

So ist es denn auch kein Wunder, dass die politische und organisatorische Schlüsselfigur der sudetendeutschen Vereinigungen in der Bundesrepublik Walter Becher war, ehemals ein Redakteur der zentralen Zeitung der NSDAP im „Reichsgau Sudetenland“. Seine Artikel strotzten nur so von radikalem Antisemitismus.

Nicht wirklich verwunderlich ist es auch, dass Becher Gründungsmitglied des rechtskonservativen bis rechtsextremen Witikobundes gewesen ist, der durch eine Personalpolitik, die an kommunistische Kaderorganisationen erinnert, die Politik der sudetendeutschen und anderer Vertriebenenorganisationen bis heute beeinflusst. Seine Mitglieder sind nicht selten auch als Autoren der Zeitschrift Junge Freiheit zu finden.

Ebenso wenig verwundert es, dass die Organisationsprinzipien der sudetendeutschen „Volksgruppe im Exil“ völkischen Prinzipien nachgebildet wurden (Erfassung der Mitglieder nach aktuellem Wohnsitz und in Heimatgliederungen) und eine individuelle Rückkehr und Niederlassung nach Tschechien, die heute fast ohne Probleme möglich wäre, von der Vertriebenenorganisation abgelehnt wird. Man besteht auf Anerkennung des „sudetendeutschen Heimatrechts“.

Erich Später, Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung im Saarland, hat am Beispiel der Sudetendeutschen Landsmannschaft eine sehr gut recherchierte exemplarische Geschichte der neuen, alten deutschen Opfermythologie vorgelegt. Man wünschte sich solch leidenschaftliche Autoren und Erwachsenenbildner in größerer Zahl.

MARTIN JANDER

Erich Später: „Kein Frieden mit Tschechien. Die Sudetendeutschen und ihre Landsmannschaft“. Hamburg 2005, Konkret Literatur Verlag, 168 Seiten, 14,50 Euro