„Wir sind erwachsen geworden“

taz-Serie „1980, 1990 – besetzte Zeiten“ (Teil 2): Viele Besetzer schlossen sich zu Genossenschaften zusammen, um ihre Häuser zu kaufen. Nun kämpfen sie mit säumigen Mietern und hohen Krediten. Die Bewohner sind aber an Entscheidungen beteiligt

VON CHRISTOPH VILLINGER

Meine Warmwasserabrechnung stimmt nicht. Wie kann ich meinen Kabelanschluss abmelden? Wer hilft gegen das zu laute Radio des Nachbarn? Warum soll ich für die Biotonne auch noch Gebühren zahlen?

Es ist Mittwochabend. In den Räumen der Luisenstadt-Genossenschaft in der Kreuzberger Mariannenstraße 48 findet die wöchentliche Sprechstunde statt. Etwa ein Dutzend Menschen stehen im Raum und warten auf Antworten auf ihre vielen Fragen. Deutsche und türkische Wortfetzen fliegen durch die Luft. Manchmal wird mitten im Satz die Sprache gewechselt. Trotz des Chaos – die beiden ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder Silke Fischer (46) und Halis Sönmez (40) behalten die Ruhe.

Zwanzig Häuser mit insgesamt 450 GenossInnen rund um den Heinrichplatz verwaltet die 1986 gegründete Genossenschaft. Dazu gehören 16 ehemals besetzte Häuser. Zwölf Hausgemeinschaften gibt es noch heute, in den restlichen acht Häusern sind die Wohnungen einzeln vermietet. „Unsere kleine multikulturelle Welt, die auch funktioniert“, schwärmt Fischer.

Anfang 2004 stand die Genossenschaft noch kurz vor ihrem Ende. Ein Bescheid des Finanzamts über 140.000 Euro hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Das Blockheizkraftwerk, das Mitte der 80er-Jahre noch als ökologisches Vorzeigeprojekt galt, wurde plötzlich als Nebenerwerb angesehen und sollte entsprechend besteuert werden. Also musste das Ding stillgelegt werden, erzählt Fischer: „Seitdem beziehen auch wir den Strom von der Bewag.“

Aber es gab auch andere Probleme: die viel zu niedrige Eigenkapitalquote, die hohen Hypothekenzinsen in den 90ern und den großen Instandhaltungsstau besonders bei den Fenstern. „Als die Miethöhe zwischen einzelnen Häuser immer weiter auseinander driftete, mussten wir gegensteuern“, erinnert sich Mitgenosse Uwe Wittig. Die Generalversammlung beschloss eine Grundmiete von 3,50 Euro pro Quadratmeter für alle. „Weg von „Das ist mein Haus“ hin zu „Wir sind eine Genossenschaft“. So lautet seitdem wieder das Credo, erzählt Fischer.

Drei feste Mitarbeiter, die jeweils für Finanzbuchhaltung, Instandhaltung und Mieterbetreuung zuständig sind, beschäftigt die Luisenstadt derzeit. Der Vorstand arbeitet ehrenamtlich. Seitdem werde er auch ganz anders akzeptiert, so Fischer. Inzwischen könne sie einzelne MieterInnen anpflaumen und ihnen direkt ins Gesicht sagen, dass sie sich gefälligst auch mal selbst um kleine Hausreparaturen kümmern können. Fischer: „Wir sind erwachsen geworden.“

Und noch ein Tabu ist gefallen: die unterschiedlichen ethnischen Realitäten. Halis Sönmez hat daran einen großen Anteil. Manch türkischem Mann musste erst einmal beigebracht werden, eine Frau als Gegenüber zu akzeptieren. Umgekehrt galt es, bei der Vermietung gegen die Ausgrenzung türkischer BewerberInnen vorzugehen, sagte Fischer. Bei diesem Thema dreht sie richtig auf. In ihrem beruflichen Alltag als Koordinatorin des Kreuzberger Quartiersmanagements ist sie damit ebenfalls konfrontiert.

Auch für Ralf Hirsch gehören ehemals besetzte Häuser zum Berufsalltag – noch. Er ist seit Anfang der 90er-Jahre Koordinator für Hausprojekte bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Von einst 121 besetzten Häusern in Ostberlin wurden ca. 70 legalisiert, mindestens 15 geräumt, bei einigen gelang es den BesetzerInnen, sich mit den Besitzern ohne Hilfe des Senats zu einigen. Oft seien Gemeinschaftsmietverträge abgeschlossen worden, erinnert sich Hirsch. Weit über die Hälfte der 70 legalisierten Projekte sanierten ihre Häuser über das Förderprogramm „Bauliche Selbsthilfe“. Doch seit 2002 kann die nicht mehr beantragt werden. Die letzten Gelder wurden gerade in der Schreinerstraße 47 verbaut. „Diese Wohnformen müssen sich nun selbst tragen“, sagt Hirsch. Sein Resümee: „Nur wer gesprächsbereit war und einen langen Atem hatte, konnte gewinnen.“

Zu den Gewinnern gehören die fünf Häuser der Selbstverwalteten Ostberliner Genossinnenschaft (SOG) rund um die Kreutzigerstraße in Friedrichshain. Nach Angaben von „Abee“, Sprecher des SOG-Sozialrats, leben nach wie vor rund 200 Leute in diesen Häusern. In bester Besetzertradition möchte er seinen bürgerlichen Namen nicht in der Zeitung lesen. „Langweilig“ findet er das. Der Sozialrat ist neben Vorstand und Aufsichtsrat das dritte Organ der SOG. Wenn es in den Häusern zu Spannungen kommt, bietet er Vermittlungsgespräche an. Als etwa einer keine Miete zahlen konnte oder wollte, habe der Sozialrat die Person immerhin dazu bewegt, zur Arbeitsagentur zu gehen, so Abee: „Bisher haben wir es immer geschafft, die Probleme auf den Hausplenen zu lösen.“

Drei der Häuser sind inzwischen fertig saniert. Die beiden anderen stehen kurz vor der Endabnahme. Doch dann ist auch die „Selbsthilfe“ vorbei, die in ihrer Hochphase 40 Leuten Lohn und Brot brachte. Und weitere Sanierungsprojekte der SOG sind gefährdet. Ohne staatliche Zuschüsse seien bisherige Kalkulationen nicht mehr denkbar, so Abee. Momentan verlangt die SOG 3 Euro Nettokaltmiete pro Quadratmeter. Frei finanziert käme sie auf Mieten von über 7 Euro.

Genau kalkulieren müssen auch die Luisenstadt-Genossen in Kreuzberg. „Wir drei Vorstandsmitglieder haben alle Kinder“, sinniert Silke Fischer. Die würden es vielleicht erleben, dass die Kredite abbezahlt sind. „Wer von uns hätte 1981 daran geglaubt, jemals 40 zu werden? Jetzt wollen wir mal dran glauben, dass wir 65 werden.“