20 Jahre Fall der Mauer: Die Erzählung von Ostdeutschland
Mit dem Abriss der Mauer hoffen die Ostdeutschen auf die Verwirklichung ihrer Utopie, der Utopie von einer besseren Gesellschaft, wie sie die DDR nicht verwirklicht hatte. Was ist daraus geworden?
8. Oktober, Berlin-Mitte, im Kino Babylon. Ein Mann mit Schnurrbart steht auf der Bühne und spricht in das Mikrofon in seiner Hand. "Es geht um Dinge, die nicht gesagt wurden, um Dinge, die nicht gesagt werden dürfen." Der Mann, der vor Tabus nicht zurückschreckt, heißt Marcel Hartges. Er ist Verlagschef von Piper und war bereits 2008 furchtlos, als er mit Charlotte Roches Analexpedition die Tiefen menschlicher "Feuchtgebiete" ausloten ließ. Über eine ungleich sensationsärmere Region hat nun Jana Hensel ein Buch geschrieben. An diesem Abend ist Buchpremiere von "Achtung Zone", der Vorgänger "Zonenkinder" hielt sich ein Jahr auf der Bestsellerliste. Jana Hensel ist für Hartges vielleicht die Charlotte Roche des Ostens.
Die Sensation an diesem Abend erklärt sich so: Willy Brandts Wendeworte "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört" soll er nie gesagt haben. Jemand hat sie nachträglich in sein Redemanuskript montiert, so steht es in Jana Hensels Buch. Für die Autorin ist diese Episode sinnbildlich für das "klischeehafte Sprechen über den Osten". Eines, bei dem die Erinnerung an den Mauerfall den Kanon bildet. In Bezug auf die Nachwendezeit herrsche "Sprachlosigkeit", sagt Hensel. Es fehle ein positives Bekenntnis zu einer eigenständigen ostdeutschen Identität nach 1989. Ein ungarischer Wissenschaftler habe gezählt, dass es nach der Abwicklung der ostdeutschen Industrie in den Jahren 1991 bis 1993 mehr Demos gegeben habe als 1989.
"Ich akzeptiere nicht, dass der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird. Die Frustrierten dürfen nicht über Deutschlands Zukunft bestimmen", sagte Edmund Stoiber 2005. Die wohlwollend-herablassende Fixierung auf Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West sind ebenso wie Stoibers Jammerossis gängige Erzählungen. Jana Hensel konstatiert eine Sprachlosigkeit im Osten, die sich "vor allem aus einem fremden Blick auf das Eigene" speise.
Weniger eloquent
Berlin-Niederschöneweide, Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Wolfgang Engler ist hier Rektor. Er ist zudem Kultursoziologe, hat über "Die Ostdeutschen als Avantgarde" geschrieben. Herr Engler, können Sie Attribute nennen, die Ostdeutsche treffend charakterisieren?
"Zu resümieren und kurz zusammenfassen, nicht so ins Eloquente zu neigen, mit einem Augenschlag Kritik zu äußern, mit einer Anspielung eine ganze Geschichte zu erzählen: daran erkennt man Ostdeutsche. Das hat auch überwintert. Früher war es die Verwurzelung in der Arbeiterschaft. Was Sprache, Verhalten und die Kleidung angeht - das war stark vom klassischen arbeiterlichen Milieu adaptiert."
Und heute?
"Das wird nun außer Dienst kultiviert."
Demografie: Seit der Wende sind etwa 1,8 Millionen Menschen abgewandert.
Arbeit: Die Arbeitslosenquote ist in Ostdeutschland mit 12 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Laut einer DGB-Studie sind im Osten 40 Prozent mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden (31 Prozent im Westen).
Politik: Laut einer Umfrage der Volkssolidarität sind 42 Prozent unzufrieden oder "sehr unzufrieden" mit der Demokratie, nur 11 Prozent sind zufrieden. Gerade mal 0,4 Prozent der Befragten Ostdeutschen gaben an, dass sie Politikern Glauben schenken.
Ost-West: 63 Prozent der Ostdeutschen glauben, dass die Unterschiede zwischen Ost und West größer sind als die Gemeinsamkeiten. Die Quote derjenigen, die in der DDR keinen Rechtsstaat sehen, ist heute auf 61 Prozent gestiegen (45 Prozent waren es Ende der 90er-Jahre). 56 Prozent vermissen Gleichheit vor dem Gesetz.
West-Ost: 50 Prozent der Westdeutschen waren nie im Osten.
Die Arbeitslosenquote Ost ist mit 12 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. In Ostdeutschland verdient fast jeder fünfte abhängig Beschäftigte weniger als 7,50 Euro (Westen: jeder zwölfte). Der Anteil der Personen, die in Haushalten leben, die mindestens 6 Monate Arbeitslosengeld II bezogen haben, ist in Ostdeutschland mit 20 Prozent fast doppelt so hoch wie im Westen. 40 Prozent der unter 60-Jährigen waren schon einmal von arbeitsmarkt- und einkommenspolitischen Maßnahmen betroffen. Die Wirtschaftskraft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, liegt bei 70 Prozent. Mit der sozialen Gerechtigkeit zufrieden sind 5 Prozent. Unzufrieden: 72 Prozent.
Herr Engler, hat der Kapitalismus die Ostdeutschen überrollt?
"Im Osten rieten einem Verkäuferinnen von der Ware ab, anstatt sie anzupreisen, weil sie wussten, dass sie nichts taugt. Das war ein Aufrichtigkeitsgestus. Die eher hemdsärmlige Gesellschaft der DDR machte es einigen später schwer, sich mit westlichen Spielarten wie Nimbus, Prestige und Camouflage zu arrangieren. Alles Techniken, mit denen auch der Aufstieg organisiert wird."
Gewinner gibt es im Osten in den Städten, in Jena oder Leipzig. Sichtet man Grafiken und Datenmaterial, ordnet den Zahlen Farben zu und überträgt sie auf eine Deutschlandkarte, dann ist sie auferstanden: die Grenze, stabiler als Beton. Die Fakten sind Faktoren, die etwas machen mit den Menschen. 2008 identifizierten sich 22 Prozent der Ostdeutschen mit der Bundesrepublik, 62 Prozent fühlen sich noch nicht als Bundesbürger. Von 1989 bis heute hat sich die Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenstaaten insgesamt um rund 14 Prozent reduziert. Bezogen auf die Bevölkerung, war die Abwanderung im letzten Jahr bundesweit in Mecklenburg-Vorpommern am höchsten mit 1,5 Prozent.
Die Arbeitsgesellschaft
Ueckermünde, Mecklenburg-Vorpommern, nordöstlicher geht es nicht in Deutschland. Die zierliche Frau am Schreibtisch heißt Heidi Michaelis. Seit 2003 ist sie Bürgermeisterin: mit 60,9 Prozent gewählt, ihre Partei ist die Linke. Michaelis hat die längste Zeit ihres Lebens in der DDR verbracht. 1992 bekommt sie ihre Kündigung. Alle Ex-DDR-Lehrer müssen ihren Job aufgeben. Sie war als Direktorin der Goethe-Oberschule im Dienst der Diktatur, unterrichtete "Stabü", Staatsbürgerkunde. "Bodenständig", "pragmatisch", das treffe auf die Ostdeutschen zu. "Jemand, der als Handformer in einer Gießerei hart gearbeitet hat, der konnte genauso gut verdienen wie der Ingenieur. Trotzdem konnte man miteinander umgehen. Man war stolz auf seine Arbeit. Diese Identifizierung gibt es heute nicht mehr."
Das ist die "arbeiterliche Gesellschaft", von der der Soziologe Engler in Bezug auf die DDR spricht. Der Arbeiter trug den Blaumann wie einen Frack. Als Maßstab für den deutsch-deutschen Vergleich seien zu oft westdeutsche Strukturen herangezogen worden, die auf die Feststellung politischer Rückständigkeit Ostdeutschlands hinausliefen, beklagt auch die Sozialwissenschaftlerin Dolores Domke. Sie hat die ostdeutsche Mentalität untersucht. Kennzeichnend sei eine "Ernsthaftigkeit und eine von überindividuellen Dimensionen geprägte Denkweise, die aus der Verpflichtung auf eine Utopie beruht", so Domke. Bürgermeisterin Michaelis sagt: "Es war immer die Hoffnung da auf eine Zeit, die besser ist. In der alle gleich sind."
Die Erfüllung der Utopie - das erhofften sich viele Ostdeutsche von der Wende. Es war der Wunsch nach einer besseren Gesellschaft, die die DDR nicht verwirklicht hatte. Die Schriftstellerin Claudia Rusche schreibt in ihrem Buch "Aufbruch Ost": "Die DDR ist nach Artikel 23 des damaligen Grundgesetzes der BRD beigetreten und hat deshalb natürlich alles dort Vorhandene übernommen - mit dem Effekt, dass der durchschnittliche Westbürger den Unterschied allein am Solidaritätsbeitrag spürte, sich die Lebensrealität der DDR-Bürger dagegen vom Schnürsenkel bis zum Steuersystem komplett veränderte."
Das ähnelt dem, was Migranten bei der Ankunft in ihren neuen Heimatländern erleben, und verläuft in Phasen: der Selbstethnisierung und der Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen des Gastlandes, dem Gefühl, ein Mensch zweiter Klasse zu sein. 42 Prozent der Ostdeutschen beschreiben sich laut einer aktuellen Allensbachumfrage genau so. In einer Untersuchung des Bundesverkehrsministeriums stimmten 49 Prozent der Einschätzung zu, die DDR habe "mehr gute als schlechte Seiten" gehabt. Darin findet eine weitere Phase ihren Ausdruck: die der Rückbesinnung auf die vertraute Kultur, die vor einigen Jahren als "Ostalgie" verkitscht wurde.
Soziale Enge
"Unruhe, Getriebensein, Erschöpfung ließen die oftmals beklemmende Ruhe unter dem alten Regime in günstigerem Licht erscheinen", erklärt Wolfgang Engler. "Annähernde soziale Gleichheit stattet die Menschen mit Wahrnehmungen, Urteilen und Gefühlen aus, die selbst geringfügige Unterschiede registrieren und Energien freisetzen, die auf deren Einebnung trachten." Exzentriker und Individualisten hatten einen schweren Stand, so wie jetzt der Arbeiter.
"Das Wort ,Kollektiv' gibt es heute gar nicht mehr", sagt Heidi Michaelis. "Früher war das Gefühl von Solidarität viel ausgeprägter." Auch im Osten? "Ja. Wenn man im Osten über Vergangenheit redet, dann ist das Ostalgie. Westalgie gibt es ja nicht." Alles, was im Osten gewesen sei, dürfe nicht gut sein. "Deswegen erinnert man sich lieber unter vier Augen."
Bei den Kommunalwahlen im Juni 2009 kam die NPD auf 9,1 Prozent der Stimmen in Ueckermünde-Randow, bei den Landtagswahlen 2006 waren es 27,9 Prozent. Fragt man Frau Michelis danach, dann sagt sie, ein NPD-Verbot müsse her. Die Autorin Claudia Rusche verweist darauf, dass der Nationalsozialismus und seine Verbrechen in den DDR-Schulen zwar durchgenommen wurden - aber phrasenhaft. "Die Verbrechen der Nazizeit wurden in keinerlei persönlichen Zusammenhang mit den Bürgern der DDR gebracht." Heidi Michaelis sagt: "Wir diskutieren uns ja noch kaputt und kommen gar nicht zum Arbeiten!"
Steht eine kritische Auseinandersetzung zwischen den Generationen, ein DDR-Achtundsechzig, noch bevor? "Eltern und ihre Nachkommen wurden einem schockartigen Prozess der ökonomischen Entblößung ausgesetzt. Das vereint eher, als dass es trennt", sagt Wolfgang Engler, der Soziologe. "Das ist ja keine Aufstiegsgeschichte, wie sie die 68er hinter sich hatten, die im Begriff waren, Positionen zu erringen. Deswegen glaube ich, dass da eher gemeinsame Erzählungen über 1989 und die Folgen im Gange sind statt Erzählungen über Versagen und Schuld."
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