Jugendprotest gegen Sparpolitik in Marzahn-Hellersdorf: Stummer Widerstand auf DIN A 5
In Marzahn-Hellersdorf werden sechs Jugendeinrichtungen an freie Träger übergeben. Der Protest der Jugendlichen interessiert die Verantwortlichen nicht die Bohne.
"Willkommen auf unserer sozialen Weihnachtsfeier!" Maria, 20, spricht zu einem Raum voll beseelter, meist älterer Gesichter. Die "Peerhelper" servieren kostenloses Essen. Sie gehören zu einer internationalen Bewegung von Jugendlichen, die sich gemeinsam für ihre Belange und ihre Stadtteile einsetzen.
Im Mehrgenerationenhaus M 3, einem flachen Bau zwischen den Wohnbatterien Marzahns, hat die Gruppe von Maria ihre Basis. Hier werden die Peerhelper ausgebildet, hier lernen sie gesellschaftliche Teilhabe. Sie laden Referenten aus Politik, Verwaltung, Jugendarbeit und lassen sich erklären, was sie interessiert. Beispielsweise wie sie ihre Projekte finanzieren: Sockenpuppentheater für Kids, politische Bildungsfahrten für Jugendliche, die soziale Weihnachtsfeier für die zumeist älteren Gäste und vieles mehr.
Von der Bühne der Feier aus sagt Maria: "Wir hoffen, dass wir dieses Fest auch in Zukunft ermöglichen können und in zwei Jahren den Zuschlag bekommen, damit wir unsere Arbeit fortsetzen können." Denn die Peerhelper fürchten um ihren Treffpunkt im M 3 und um ihre Betreuer.
Zum Jahreswechsel gibt die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Marzahn-Hellersdorf unter Federführung der Bezirksstadträtin für Jugend und Familie, Manuela Schmidt (Linke), 6 von 18 Jugendfreizeiteinrichtungen an freie Träger ab. Alle zwei Jahre wird der Betrieb der Jugendeinrichtungen künftig neu ausgeschrieben. In ganz Berlin geschieht Ähnliches. Um "unter dem Druck harter Haushaltsverhandlungen zumindest die Standorte zu erhalten", rechtfertigt Schmidt.
Das bedeutet, von den 21 kommunalen Mitarbeitern der Bezirkseinrichtungen wechseln 13 zu einem freien Träger, der Rest wird in den Stellenpool des öffentlichen Dienstes abgeschoben. Die Häuser behält der Bezirk. 361.000 Euro werden damit 2010 gespart. Jennifer Hübner von den örtlichen Jusos ist eine der wenigen, die zu öffentlicher Kritik bereit sind: "Die lagern das ja nicht umsonst aus, so kann man die Mittel viel leichter weiter kürzen", sagt sie.
Für die Peerhelper vom M 3 bedeutet der Beschluss den Verlust von zwei Betreuerstellen und alle zwei Jahre die Unsicherheit, ob ein neuer Träger sie übernehmen wird. Sie können nichts tun, damit man sich für sie entscheidet. "Wegen Befangenheit", so Schmidt, haben die Betroffenen keinen Einfluss auf die Wahl eines Trägers. Sie wurden in die diesjährige Vergabe weder einbezogen noch informiert.
So erschienen die Peerhelper von alleine vor dem Jugendhilfeausschuss. "Ein Abgeordneter musste richtig drauf bestehen, dass wir zumindest auf der nächsten Sitzung was sagen dürfen", erzählen sie. Christian Fender, jugendpolitischer Sprecher der Grünen in der BVV, bestätigt. Auf der nächsten Sitzung durften die Peerhelper sprechen. Michéle hatte ein Schild mitgebracht: Es ist DIN A 5, so groß wie eine Viertel-taz. Mit Kugelschreiber hat sie "Keine Ausschreibung" darauf geschrieben.
Es war der Versuch einer Auseinandersetzung, und die Bezirksrätin hielt ihn nicht aus. Mehrere voneinander unabhängige Zeugen bestätigen, wie Schmidt in der Sitzung Michéle abkanzelte: "Wir haben es jetzt alle gesehen, es reicht jetzt auch wieder." Zur darauf folgenden Bekanntgabe der Sieger der Ausschreibung wurden die Peerhelper wieder nicht eingeladen.
Auch die notorisch niedrige Wahlbeteiligung in Marzahn-Hellersdorf zeigt: Politische und gesellschaftliche Teilhabe sind im Bezirk nicht einfach zu lernen. Die parlamentarische Jugendinstitution "Jugend-BVV" etwa versandete, weil der Bezirk das Projekt finanziell austrocknen ließ. Am 17. Dezember beschloss die BVV ein Alkoholverbot am Biesdorfer Baggersee - wegen angeblicher Ruhestörung durch Jugendliche. Am ehemals belebten Schlosspark Biesdorf drehen sich aus ähnlichen Gründen ab 19 Uhr die Türen nur noch nach außen. In beiden Fällen wurden die Jugendlichen nicht einbezogen. Wenn sie das M 3 nicht hätten, müssten sie ihren Treffpunkt schon in die brandenburgischen Felder verlegen.
Auch die Arbeit der Peerhelper ist in Gefahr. Und die Weihnachtsfeier plötzlich auch: Die Bauchtanzgruppe wird verzweifelt gesucht, Telefone klingeln heiß. Michéle bleibt ganz cool. "Dann sing ich halt ein Lied mit den Kindern." Michéle hat eine Stimme, vor der man eigentlich keine Angst haben muss. Bei ihrem Auftritt im Jugendhilfeausschuss hatte sie trotzdem kein Rederecht - sondern nur ein Schild. Sie behält es erst einmal.
Leser*innenkommentare
K. Meyer
Gast
Es ist schon sehr traurig, dass wegen einer lächerlichen Einsparsumme ganze Strukturen in der Jugendarbeit zerstört werden. Die Übertragungen der kommunalen Einrichtungen sind nur der Anfang der Sparpolitik in den sozialen Bereichen. Es wird in den nächsten Jahren weiter gekürzt und eingespart.
Es gibt keinen Jugendstadtrat in den Berliner Bezirken, welcher sich politisch gegen die Kürzungen im Kinder- und Jugendbereich ausspricht und auch so agiert. Meiner Meinung nach, fehlen den politischen Verantwortlichen das Rückgrat, um sozial für die Bürger dieser Stadt zu entscheiden.
Was den Widerstand betrifft, dieser wird von den politisch Verantwortlichen einfach ignoriert oder belächelt. Man kennt dies aus den Bezirken Mitte und Friedrichshain.
www.widerstand-berlin.de
widerstand.mitte
Stefan Ziller
Gast
Die Ursache der Misere findet in dem Artikel leider kaum Beachtung. Ich habe die früheren Konflikte in Marzahn-Hellersdorf als Mitglied der Jugend-BVV mitgemacht. Schon vor Jahren ging es darum Jugendeinrichtungen zu schließen.
Das Problem ist, dass die Bezirke nicht über ihre Einnahmen (Zuweisungen vom Senat) entscheiden, sondern nur über die Ausgaben. Die Konflikte aber auf die Verteilung der zu wenigen Mittel zu reduzieren hilft nicht weiter.
P.S.: Bei der Schließung des "ehemals belebten Schlosspark Biesdorf" wurde die Jugend-BVV sowie Jugendliche aus dem Park einbezogen! Es wurde am Ende nur gegen sie entschieden. Das gehört zur Richtigstellung dazu!
Herbert Scherer
Gast
der Artikel von Martin Schwarzbeck in der
heutigen taz ist ein Musterbeispiel fuer
eine neue Art von "Schmierenjournalismus" ...
Um eine bestimmte "kritische" Position
auf Deubel komm raus durchzuhalten, wird
die Wahrheit entsprechend verbogen ---
Es geht in dem Artikel nicht zuletzt
um das Geschick der kommunalen Jugendeinrichtung
M3, die der Verband fuer sozial-kulturelle Arbeit
ab 1.1.2010 in Zusammenwirken mit einem
Vor-Ort-Verein (M3 e.V.) als Traeger uebernimmt.
Das war genau DIE Loesung, die die jugendlichen
Peer-Helper mit ihrem Protest gegen die AUSSCHREIBUNG
erreichen wollten!! Es bestand die Befuerchtung,
dass durch das Ausschreibungsverfahren nicht die
ueber Jahre bewaehrte Zusammenarbeit mit dem
VskA beruecksichtigt wuerde sondern dass sich
irgendein "fremder" Traeger durchsetzen koennte ...
Die Einrichtung sollte - so die Jugendlichen -
OHNE AUSSCHREIBUNG DIREKT an den Verband
(in Zusammenarbeit mit "ihrem" Verein M3 e.V.)
uebergeben werden.
Im Artikel sieht es so aus, als haetten die
Jugendlichen dafuer kaempfen wollen, dass die
Einrichtung in kommunaler Traegerschaft bleibt,
das ist eine absolut tendenzioese Fehldarstellung!
Die Jugendlichen waren skeptisch gegenueber den
Beruhigungsversuchen der Stadtraetin Manuela
Schmidt, die ihnen vermitteln wollte, dass sie
von einer Ausschreibung nichts zu befuerchten haetten ...
Die Wirklichkeit hat der Stadtraetin Recht gegeben:
es ist so gekommen, wie die Jugendlichen es
wollten - und keineswegs so, wie sie es
zwischenzeitlich befuerchtet hatten.
Dazu hat sicher auch ihr aktives Engagement
gegenueber dem Jugendhilfeausschuss (und gegenueber
den Parteien in der BVV) beigetragen.
Der Artikel wird den Jugendlichen auch in
dieser Hinsicht nicht gerecht. Wo sie einen
ERFOLG erzielt haben, wird ihnen ein Misserfolg
angedichtet - nur damit die Tendenz des
Artikels stimmt - das ist gemein!
Herbert Scherer
Geschaeftsfuehrer, Verband fuer sozial-kulturelle
Arbeit
Sarah Ludwig
Gast
Menschen wie Michéle machen mir Hoffnung und sind Motivation, denn trotz aller Barrieren, trotz aller dümmlicher Ignoranz seitens der Politik und kleingeistiger BürgerInnen, engagieren sie sich für ihre Mitmenschen. Danke Michéle und auch Dank an die taz, dass sie auch diese vermeintlichen Randgeschichten aufgreift!