Vorauseilender Jahresrückblick: So wird das Jahr, das kommt
Konflikte, die uns 2010 bewegen: Die Altonaer Baumbesetzer radikalisieren sich, Hamburgs Künstler ziehen gleich ganz weg nach Berlin, durch die "Tanzenden Türme" am Millerntor pfeift kalt der Wind - und am Ende wird doch alles gut.
Mittwoch, 6. Januar: Bürgermeister Ole von Beust (CDU) führt Gespräche mit den Baumbesetzern, die den Bau der Fernwärmeleitung vom Kohlekraftwerk Moorburg durch den Altonaer Grünzug verhindern wollen. "Ich war auch mal jung, aber jetzt ist es Zeit, auf den Boden zurückzukommen", sagt von Beust und bietet den Aktivisten selbstgebrühten Ostfriesentee an.
Freitag, 8. Januar: Hamburger Künstler solidarisieren sich mit den frierenden Baumbesetzern im Altonaer Grünzug. "Wenn die Bäume gehen, gehen auch wir", heißt es in einem Manifest, das im Gängeviertel vorgestellt wird. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) bietet den Künstlern daraufhin Atelierräume im Wedding an. Der dortige Kiez, so Wowereit, "könnte ein bisschen Aufwertung brauchen".
Donnerstag, 11. Februar: Helmut Schmidt gibt seinen Rückzug als Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit bekannt. "Ohne die Gräfin macht das hier keinen Spaß mehr", erklärt Schmidt. Gerüchten zufolge hatte er seit der Einstellung des Interview-Formats "Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt" zum Rauchen vor die Tür des Pressehauses am Speersort gemusst.
Freitag, 19. Februar: Beim traditionellen Matthiae-Mahl im Rathaus verschluckt sich der Ehrengast, Ungarns Staatspräsident László Sólyom, an einer Fischgräte. Das vollzählig angetretene Konsularische Korps ist geschockt, Notfallseelsorger sind im Einsatz. Bürgermeister Ole von Beust verschiebt seinen Sylt-Urlaub um einen Tag.
Dienstag, 23. Februar: Eine Woche nach der Räumung der besetzten Bäume im Altonaer Grünzug durch eine Spezialeinheit der Polizei wird bekannt, dass die GAL den Baumbesetzern heimlich Wärmelampen gespendet hatte. "Die Lampen wurden von Sonnenkollektoren betrieben und leisteten damit einen Beitrag zum Klimaschutz", rechtfertigt Umweltsenatorin Anja Hajduk die Aktion.
Donnerstag, 1. April: Nach der Übersiedlung der meisten Hamburger Künstler in den Berliner Bezirk Wedding bietet die der Senat die leer stehenden Häuser im Gängeviertel dem Kulturinvestor und Rote-Flora-Eigentümer Klausmartin Kretschmar an, der dort eine Schauspielschule einrichten will. "Mir schwebt so eine Art experimentelles Labor vor, mit Method-Acting und so", sagt Kretschmar der Bild-Zeitung. Die Leitung der Schule solle Nadja Abd El Farrag übernehmen. Kultursenatorin Karin von Welck (parteilos) habe bereits Zustimmung signalisiert.
Samstag, 8. Mai: Am letzten Spieltag der Fußball-Bundesliga empfängt Werder Bremen den Hamburger SV. Beide Teams stehen punktgleich an der Tabellenspitze, Werder gewinnt mit 2 : 1 und ist Meister. Der HSV trifft dreimal an die Latte. Trainer Bruno Labbadia, seit Wochen als Nachfolger für den entlassenen Bayern-Coach Louis van Gaal gehandelt, hatte seine Spieler in einem Abendblatt-Interview mit den Worten angegriffen, sie hätten es sich "in der hanseatischen Gemütlichkeit zu bequem gemacht".
Sonntag, 9. Mai: Nachdem sie die Nacht im Polizeigewahrsam verbracht haben, ziehen frustrierte HSV-Fans den Bremer Osterdeich hinunter und werfen Steine und Flaschen auf Passanten. Die Polizei drängt die Randalierer in die Weser ab, einige werden von der Strömung mitgezogen und treiben Richtung Bremerhaven. Gerüchte, nach denen sie ein Werder-Fanklub auffischt, der die Meisterschaft auf einem Dampfer gefeiert hat, werden vom HSV noch am selben Abend dementiert.
Sonntag, 9. Mai: Trotz einer 1 : 2-Heimniederlage gegen den SC Paderborn steigt der FC St. Pauli in die erste Bundesliga auf. In den tumultartigen Jubelfeiern geht völlig unter, dass Trainer Holger Stanislawski seinen Wechsel zum HSV ankündigt. "Das ist doch der wahrhaft proletarische Club hier in Hamburg", sagt der Coach zur Begründung. "Zu St. Pauli kommen doch nur noch diese linken Yuppies."
Samstag, 17. Juni: Der Investor Züblin Development zieht sich vom Bau der "Tanzenden Türme" auf der Reeperbahn zurück. "Die Bautätigkeit wird ab sofort eingestellt", heißt es in einer Pressemeldung aus der Kölner Firmenzentrale. Nach dem Konkurs der HSH Nordbank in der Vorwoche hatte die Stadt erklärt, die vereinbarten Kredite für die zweite Bauphase nicht gewähren zu können. Die "Tanzenden Türme" befinden sich noch in der Rohbauphase, fünf von 24 Stockwerken sind fertig, die Glasverkleidung steht aus.
Sonntag, 25. Juli: Der Volksentscheid zur Schulreform verfehlt die erforderliche Stimmenzahl. "Wir hatten einfach Pech", sagt der zerknirschte Initiator der Anti-Reform-Initiative "Wir wollen lernen", Walter Scheuerl. Sein Plan, in großer Zahl Elbvorort-Eltern aus Sylt einfliegen zu lassen, war nicht aufgegangen, weil schwere Orkanböen die Sperrung des Flugplatzes auf Westerland erfordert hatten. Zur Anreise mit der Bahn indes, "waren die meisten nicht zu bewegen", so Scheuerl.
Samstag, 11. September: Die Hamburger Künstler kehren aus dem Berliner Wedding zurück. "Wir wollen nicht zur Gentrifizierung dieses alten Arbeiterstadtteils beitragen", heißt es in einem Manifest, das in der Roten Flora vorgestellt wird. Die Berliner Boulevardpresse hatte in den vergangenen Wochen mehrfach über Atelierplünderungen berichtet. Auch war es zu Kampfhundebissen gekommen. "Kaum sagt man Moin Moin, schon hat man eine in der Fresse", ließ sich ein "Hamburger Bildhauer, 31" in der Berliner Morgenpost zitieren.
Montag, 18. Oktober: Der Gründer der gescheiterten Anti-Schulreform-Initiative "Wir wollen lernen", Walter Scheuerl, will sich für eine besser ausgestattete Erste Klasse in der Nord-Ostsee-Bahn einsetzen. "Die Wagen dort haben nicht mal Ledersitze, und der Champagner ist schlecht gekühlt", so Scheuerl. Die neue Initiative trägt den Namen "Wir wollen reisen".
Montag, 22. November: Im Konflikt um die Hamburger Künstler, die seit einem Monat vor dem Rathaus campieren, bahnt sich eine Lösung an: Sie könnten doch in die "Tanzenden Türme" einziehen, schlägt Finanzsenator Michael Freytag (CDU) auf einer überraschend anberaumten Pressekonferenz vor. Der geplante Abriss der halbfertig über der Reeperbahn aufragenden Türme könne verschoben und der Weihnachtsmarkt am Rathaus ordnungsgemäß durchgeführt werden.
Dienstag, 23. November: Das Bündnis "Recht auf Stadt" bezeichnet das Angebot an die Künstler als "ersten Schritt": "Wir fordern Zentralheizung auf allen Stockwerken", heißt es in einem Manifest, das zahlreiche Hamburger Kulturschaffende unterzeichnet haben. Denn wehe der Wind vom Hafen her, werde es in den Türmen empfindlich kalt.
Freitag, 24. Dezember: Der Kulturinvestor Klausmartin Kretschmer will die "Tanzenden Türme" mit Plastikfolien abdichten lassen. "So könnten die Offenheit des künstlerischen Prozesses unterstrichen werden", erklärt Kretschmer, nachdem er mit seiner Ehefrau, der jungen Sopranistin Julia Wachsmann, die Christmette im Michel besucht hat. Im Erdgeschoss der Bauruine will der Kulturinvestor eine Gesangsakademie einrichten.
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