„Ich gewöhne mich an den Wind“

Emel Abidin Algan

„Es wird mir vorgeworfen, ich hätte meinen Glauben verändert, ich sei vom Glauben abgefallen, ich sei schamlos. Was weiß ich, was noch alles hinter meinem Rücken gesagt wird.“ „Der ganze Stress und diese Unverhältnismäßigkeit im Umgang mit dem Kopftuch, der im Namen des Islam vollzogen wird, passt nicht zu meinem Verständnis von Gläubigkeit. Es gibt wichtigere Dinge“

Emel Abidin Algan hat aus Sicht ihrer muslimischen Gemeinde einen radikalen Schritt gemacht: Sie hat vor ein paar Monaten das Kopftuch abgelegt. Die 44-Jährige will ihr Leben selbst bestimmen. Sie will als Frau wahrgenommen werden – und nicht länger nur als älteste Tochter des Gründers der deutschen Sektion von Milli Görüs, Yusuf Zeynel Abidin, sowie als Ehefrau eines Mitglieds der Islamischen Föderation. Auch den Vorsitz des Islamischen Frauenvereins in Berlin hat die Mutter von sechs Kindern nach zehn Jahren niedergelegt. Die Rolle der Frau, die durch das Kopftuch symbolisiert werde, passe nicht mehr zu ihrer persönlichen Entwicklung. Aus Sicht vieler Mitglieder ihrer Gemeinde ist ihr Verhalten eine Provokation.

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Algan, vor ein paar Jahren sagten Sie noch, dass Sie sich mit dem Kopftuch identifizierten. Jetzt gehen Sie ohne Kopftuch an die Öffentlichkeit, obwohl dies als Affront in Ihren Kreisen gewertet wird. Wie ist der Wandel zu verstehen?

Emel Algan: Als ich geschlechtsreif wurde, hat mir meine Mutter das Kopftuch gereicht. So schrieb es das religiöse Gesetz vor, dem meine Eltern folgten. Auf die Idee, das Kopftuch zu hinterfragen, wäre ich nie gekommen. Zum Zweiten wurde ich verheiratet. Da gab es auch keine Möglichkeit, auszuweichen. Meine eigene Entfaltung wurde damit eingeschränkt. Durch meine jetzigen Veränderungen habe ich diesen fremdbestimmten Rahmen aufgebrochen. Ich erobere mir meine Freiheit als Frau allmählich zurück.

In Ihrem Fall ist die Lage nicht so einfach. Sie sind die Tochter des Gründers der deutschen Sektion von Milli Görüs, einer Organisation, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird und die den Islam politisch versteht.

Als mein Vater die Organisation gründete, ging es ihm nicht um Politik. Ihm ging es um soziale Werte. Mein Vater war kein machtbesessener Mensch.

Ihr Vater ist sehr angesehen in islamischen Kreisen. Sind Sie, als Älteste seiner beiden Töchter, nicht so etwas wie seine Thronfolgerin?

Tatsächlich wird erwartet, dass ich mir als Tochter meiner Vorbildfunktion bewusst bin. Viele in meiner Gemeinde sind sehr enttäuscht, weil ich das Kopftuch abgelegt habe. Es wird mir vorgeworfen, ich hätte meinen Glauben verändert, ich sei vom Glauben abgefallen, ich sei schamlos. Was weiß ich, was noch alles hinter meinem Rücken gesagt wird.

Solche Kommentare sind uns in der Tat auch zu Ohren gekommen. Stehen Sie mit Ihrer Entwicklung denn so allein da?

Ich kenne keine anderen Frauen, die damit so selbstbewusst an die Öffentlichkeit gehen. Gerade aufgrund meiner familiären Wurzeln wird erwartet, dass ich meine Anschauungen zurücknehme, zugunsten meiner Verantwortung der Gemeinde gegenüber. Das kommt für mich nicht infrage.

Was ist passiert, dass es für Sie nicht mehr infrage kommt?

Im Grunde ist es meine Verantwortung meinem Glauben gegenüber. Denn dieser ganze Stress und die Unverhältnismäßigkeit im Umgang mit dem Kopftuch im Namen des Islam passen nicht zu meinem Verständnis von Gläubigkeit. Es gibt wichtigere Dinge.

Welche?

Ehrlichkeit. Die, die sich krampfhaft an Äußerlichkeiten festhalten, laufen Gefahr, den Blick für sich selbst zu verlieren. Weil sie imitieren, weil sie befolgen. Dabei hat man unter Druck nie die Chance, ehrlich zu sein.

Der Verwaltungsratsvorsitzende der Islamischen Föderation meinte, das Kopftuch sei religiöse Verpflichtung. Aber auf die Frage, wie er zu Ihrer Entscheidung, das Kopftuch abzulegen, stehe, antwortete er: Das sei Ihre private Angelegenheit. Wenn dem so ist, warum ist das Kopftuch überhaupt ein Politikum?

Das ist genau der Punkt. Ich gehe davon aus, dass es keine religiöse Verpflichtung ist, den Kopf zu bedecken. Aus den zwei betreffenden Stellen im Koran kann man alles Mögliche herauslesen. Außerdem ist auch klar, dass es keine Symbolpflicht im Islam gibt. Das Kopftuch ist das einzige klare Symbol, das die Zugehörigkeit zum Islam bezeugt – aber nur bei Frauen. Es ist interessant, dass es nur die Frauen trifft, gerade in unserer heutigen Zeit, wo es diese politischen Turbulenzen gibt.

Wie meinen Sie das?

Nach so viel Gewalt, die im Namen des Islam in den vergangenen Jahren weltweit praktiziert wurde, sind doch die Nichtmuslime in völliger Unruhe. Sie sehen ein Symbol des Islam, das Kopftuch, sie assoziieren es mit Gewalt – und dahinter steckt die Frau. Wem nützt das? Allerdings sehe ich, dass ich als Gläubige die soziale Verpflichtung habe gegenüber der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft, in der ich lebe, für Entspannung zu sorgen. Es macht mir keinen Spaß, mein Gegenüber in Schrecken zu versetzen. Ohne Kopftuch bin ich eine von vielen. Ich genieße diese Unauffälligkeit. Dadurch ist eine vertrautere Kommunikation entstanden.

Sie sagen, die Kopftuchdebatte, in der Sie als Vorsitzende des Islamischen Frauenvereins eine viel gefragte Gesprächspartnerin waren, habe zu Ihrer Entwicklung beigetragen.

Zu jener Zeit war aus Sicht meiner Gemeinde noch alles in Ordnung. Wenn ich auch speziell von einer Hutmacherin kreierte Kopfschmuckmodelle trug, weil ich fand, dass im Koran nicht steht, dass wir wie Vogelscheuchen herumlaufen müssen, so war ich dennoch bedeckt. Aber die Kopftuchdebatte hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich dachte, wenn die Bedeckung freiwillig getragen wird, dann müsste es auch nicht schwer sein, sie abzulegen. Da habe ich angefangen, zu experimentieren und sie in Wartezimmern oder bei Veranstaltungen abgenommen. Ganz vorsichtig. Denn im Koran heißt es: Verhüllt euch, bedeckt euch, zieht eure Gewänder reichlich über euch, damit ihr vor Schaden geschützt seid. Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass kein Schaden eintritt, wenn ich das Kopftuch ablege. Die Männer gucken nicht mal.

Und wie fühlte es sich an?

Durch die veränderte Qualität der Kommunikation hat sich auch mein Selbstbewusstsein gestärkt.

Waren Sie davor keine selbstbewusst Frau?

Ich war immer eine selbstbewusste, dominante Person, die ihr Leben gestaltet hat, wie sie wollte. Aber ich habe es in diesem fremdbestimmten Rahmen gemacht. Jetzt habe ich mir meine eigene Freiheit wieder zurückerobert, und ich fühle mich besser. Die bedeckten Frauen kommen mir jetzt mitunter verkleidet vor. Das ist meine ganz persönliche Wahrnehmung. Weil ich aus der Welt der Verhüllung komme, weiß ich andererseits, wie schwer es ist, sich da herauszubewegen. Umgekehrt finde ich, dass es eine Gewaltanwendung ist, Frauen zu zwingen, das Kopftuch abzusetzen.

Was schlagen Sie vor?

Jede Frau, die Kopftuch trägt, soll es aus eigener Überzeugung tun. Sie soll es wollen, und sie soll die Möglichkeit haben, herauszufinden, warum sie es will. Auf eine, die es nicht will, soll kein Druck ausgeübt werden. Und da kommen wir auch auf diesen Widerspruch: Einerseits heißt es im Koran, es gibt keinen Zwang im Glauben. Andererseits wird aus dem Koran interpretiert, es gebe religiöse Pflichten, die mit Sanktionen verbunden sind. Das führt uns zum Sündenbegriff. Die Nichtbefolgung der religiösen Pflichten oder eines göttlichen Gesetzes wird als Sünde definiert. Auf die Sünde folgt Bestrafung.

Sie lehnen den Begriff der Sünde ab?

Ja. Ich lehne sogar den Begriff „göttliches Gesetz“ ab. Für mich ist der Koran ein Buch von „göttlichen Offenbarungen“, die zu verstehen sind als Ermahnungen und Empfehlungen und nicht als Gesetze. Für mich sind göttliche Offenbarungen universal und flexibel und anpassungsfähig. Die Zeit verändert sich. Auch eine göttliche Weisheit muss so verstanden sein, dass sie den Anforderungen der Zeit gerecht werden kann – und nicht umgekehrt, dass die Gegenwart in das alte Verständnis hineingepresst wird. Das geht nicht gut. Schon gar nicht auf Kosten der Frauen.

Sie begeben sich damit auf gefährliches Terrain.

Ich weiß, aber mir ist die Freiheit des Menschen wichtiger. Mir ist die Befreiung des freien Geistes wichtiger, und vor allen Dingen ist mir die Rückeroberung unserer Liebesfähigkeit wichtig. Es gibt auch deswegen so viel Gewalt, weil die Menschen den Zugang zu ihrer Liebesfähigkeit verloren haben.

Können Sie das erklären?

Liebe wird verteufelt. Da gibt es einen Begriff im Islam, der heißt „Nafs“, und dieser „Nafs“ wird verbunden mit dem Teufel, mit Versuchung, mit Triebhaftigkeit. Der Mensch ist aus meiner Sicht aber kein Monster, das es zu zähmen gilt. Für mich ist der Mensch ein Geschenk des Schöpfers, das von seinem Wesen her gut ist.

Sie zimmern sich demnach Ihr eigenes religiöses Verständnis?

Ja, das tue ich.

Ist so etwas im Islam erlaubt?

Nach dem traditionellen Verständnis wird widerspruchsloses Befolgen religiöser Vorschriften erwartet. Ich setze mich darüber hinweg, weil ich finde, Religion muss Spielraum für eigene Erkenntnisse lassen. Für viele Menschen ist es hingegen bequemer, sich hinter Gesetzesregelungen zu verstecken, anstatt Fragen zu stellen. Dass keine Fragen gestellt werden sollen, stört mich sehr.

Vertreten Sie andererseits nicht die Meinung, dass der Islam die Frau zu einer richtigen Frau gemacht hat?

Schon. Aber ich unterscheide zwischen Islam und Muslimen. Die Muslime weltweit sind sehr beeinflusst von den Traditionen ihrer jeweiligen Länder. Sie sind eigentlich zuerst eher Deutsche, Türken, Araber, Indonesier oder was immer und dann Muslime. Sie sind durchdrungen von ihren jeweiligen kulturellen Traditionen, die meist nicht frauenfreundlich sind. Im Gegenteil: Sie sind oft sehr patriarchalisch. Sie diskriminieren, bevormunden und unterdrücken die Frauen und stempeln sie zu Dienerinnen ab. So etwas hat der Islam nicht vorgesehen.

Was hat er vorgesehen?

Dass die Frau ein vollwertiges Wesen ist mit Rechten und Selbstbestimmungsmöglichkeiten.

Ihre Veränderungen stellen Ihr Privatleben auf den Kopf. Sie lassen sich scheiden.

Ich habe festgestellt, dass ich nach meiner Entscheidung, ein selbstbestimmtes, verantwortungsvolles Leben zu führen, nicht mehr wahrgenommen werde als das, was ich bin und wer ich bin. Unter diesen Umständen ist für mich eine Liebesbeziehung nicht möglich. Deshalb habe ich die weltliche Scheidung eingeleitet. Im Koran steht, man soll entweder in Güte zusammenleben oder sich in Güte trennen. Religiös hat sich mein Mann noch nicht von mir getrennt, weil das ein sehr ernster Schritt ist und er noch hofft, dass ich umkehren werde. Das werde ich aber nicht tun, weil ich meiner Ehrlichkeit treu bleiben will.

Wieder eine Kehrtwendung zu machen käme Ihnen wie ein Verrat an sich selbst vor?

Ja. Das will ich nicht.

Sie sagten, Sie hätten neue Erfahrungen gemacht ohne Kopftuch. Was ist anders als früher?

Ich habe jetzt viel mehr Möglichkeiten, Dinge zu machen, die ich vorher nicht tun konnte. So hab ich etwa schwimmen gelernt, wobei ich einen Badeanzug mit Leggings trage. Auch hier war meine erste Erfahrung, dass kein Schaden entsteht. Beim Schwimmen dachte ich, jetzt gucken die Männer bestimmt. Aber auch da bin ich nicht aufgefallen, geschweige denn belästigt worden.

Es sind ja einfache Sachen: mit Leuten in Kontakt kommen, schwimmen, tanzen.

Ich muss mich sogar an den Wind gewöhnen, ein bisschen auch an die Kälte. Alles ist wichtig, weil es neu ist.