piwik no script img

Kolumne Schweizer KommunismusGaddafis Irrtum

Kolumne
von Kerstin Decker

Bisher haben wir den Kommunismus immer im Osten vermutet. Doch das ist falsch. Das Mutterland des Kommunismus ist nicht die Sowjetunion, sondern die Schweiz.

L ibyen hat noch immer den Vorsitz der UN-Vollversammlung inne. Zu Beginn seiner Präsidentschaft trat das libysche Staatsoberhaupt mit dem Vorschlag hervor, die Schweiz aufzulösen. Offenbar konnte Muammar al-Gaddafi noch keine Mehrheit für seinen Plan gewinnen, weshalb er nun die Muslime der Welt aufgerufen hat, in den heiligen Krieg gegen die Schweiz zu ziehen.

Es lässt sich in der Tat viel gegen die Schweiz einwenden. Else Lasker-Schüler glaubte, die Schweizer kämen schon siebzigjährig zur Welt und lägen in Windeln "aus Pflichtbewusstsein gewebt". Außerdem klangen die ebenso "dumpfen wie geschwollenen Dialekte" ihr "wie Rüben und Kartoffeln" in den Ohren. So viel zur ästhetischen Kritik der Schweiz. Sie ist Zufluchtsort der Steuersünder, das Land des Bankgeheimnisses sowie der Kopfpauschale. Aber ist das schon alles?

Leider nein. Bisher haben wir den Kommunismus immer im Osten vermutet. Doch das ist falsch. Das Mutterland des Kommunismus ist nicht die Sowjetunion, sondern die Schweiz.

Wo fand der große Revolutionsführer Lenin Exil, bevor er die Herrschaft der Bolschewiki errichtete? Natürlich in der Schweiz. Schon das sollte den großen Revolutionsführer Gaddafi milder stimmen. Und nun betrachten wir einmal das Schweizer Rentensystem. In der Schweiz darf die minimale Rente nur halb so klein sein wie die maximale Rente. Ja, was ist das denn? Und wer bekommt die Maximalrente? Die Antwort ist erschütternd: der Industriearbeiter, der Geringstverdienende. Die Minimalrente dagegen bekommen Bankdirektoren, Aktionäre, Manager.

Ich war kürzlich auf einer Konferenz, auf der ein Schweizer einigen Deutschen das Schweizer Rentensystem erklärte. An dieser Stelle des Vortrags brach eine Frau in hysterisches Lachen aus. Das war der Irrealitätsschock. Oder der Realitätsschock. Also der Schock, den man im Augenblick der Erkenntnis erleidet, wie real mitunter das ganz Irreale sein kann. Dabei war der Referent noch gar nicht zur eigentlichen Pointe des Schweizer Rentensystems vorgedrungen. Nämlich zu der Frage: Wie finanziert man das?

"Und nun kommt wohl das Genialste des ganzen Systems", kündigte der Vortragende an - die Dame hatte inzwischen ihre Fassung mühsam wiedergewonnen - und fuhr fort: Alle Einkommen, unabhängig von ihrer Höhe, werden mit 8,4 Prozent belastet. Niemand ist davon befreit. Auf diese Weise zahlen Spitzenverdiener oft jährlich weit über eine Million Franken in die Versicherung ein, um schließlich einmal eine Mindestrente zu beziehen.

Das ist mehr als Kommunismus. Das ist höhnischste Verkehrung des Leistungsprinzips. Das ist vorsätzliche Diskriminierung der Besserverdienenden. Der Referent gab allerdings zu, dass es heute "mühsam" wäre, ein solches System durchzusetzen. Es verdanke sich vielmehr der Nachkriegsvernunft. Die Nachkriegsvernunft muss eine sehr seltsame Vernunft gewesen sein. Es war dieselbe Vernunft, die der Bundesrepublik Anfang der Fünfzigerjahre einen Spitzensteuersatz von 95 Prozent einbrachte und außerdem das Sozialstaatsgebot in der Verfassung. Die Nachkriegsvernunft sah die Entstehung von Riesenvermögen als große Gefährdung der Demokratie. Nach Katastrophen hat man einen anderen Blick auf die menschlichen Dinge und ihren Zusammenhalt. Vor großen Katastrophen hat man ihn nie. Darin besteht nicht zuletzt die Ironie der Geschichte.

Heute würde statt des Sozialstaatsgebots wohl etwas ganz anderes in der Verfassung stehen: Die Würde des freien Menschen in einer freien Gesellschaft besteht darin, sein Platz im Leben frei zu wählen und aus eigener Kraft zu behaupten. So könnte man das formulieren. Alles andere ist verdeckte kommunistische Infiltration.

Niemand soll glauben, er sei gegen solche Einflüsterungen immun. Nehmen wir nur die Krankenversicherung. Die meisten Menschen in diesem Land halten es noch immer für selbstverständlich, dass im Krankheitsfall alles Menschenmögliche für sie getan wird. Das ist naivster Kommunismus. Die Gesunden könnten ungleicher nicht sein. Sie wohnen zwar in ein und demselben Land, aber das ist nur eine terrestrische Täuschung, denn ihre Lebensverhältnisse verraten die Wahrheit: Sie kommen von verschiedenen Sternen. Und ausgerechnet im Krankheitsfall sollen alle wieder gleich sein?

Die FDP will über die Kopfpauschale diesem Kinderglauben ein Ende machen. Auch wenn es sich bei dieser Kolumne um ein Lob der Schweiz handelt, so müssen wir an dieser Stelle doch ehrlich sein: Die Schweiz hat die Kopfpauschale schon. Der Schweizer Referent drückte diesen Umstand so aus: "In der Tat kennt die Schweiz als einziges Land in Europa und wohl auch weltweit diese ungerechten und unsozialen Kopfprämien."

Die Schweiz ist eine Dreidrittelgesellschaft. Reiche, Arme, Mittelstand zu ungefähr gleichen Teilen. Der Millionär versichert sich - gemessen an seinem Einkommen - nun also fast umsonst. Das minderbegüterte Drittel muss gestützt werden, weil es allein seine Kopfprämie nie aufbringen könnte. Und den Mittelstand drückt diese Prämie an die Wand - insbesondere wenn es sich um eine Risikogruppe wie eine Familie handelt, zu deren Wesen nun mal die Mehr- bis Vielköpfigkeit gehört. Fassen wir zusammen: Kopfpauschalen sind die ideale Krankenversicherung für alleinstehende Bankdirektoren.

Wir wissen, der große libysche Revolutionsführer hat sich sehr über die Schweiz geärgert. Aber niemand weiß so gut wie er, wie ungezogen das Volk sein kann. Gaddafi ist nämlich auch Dichter. 1995 hat er sein erstes Buch vorgelegt. Es heißt "Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten". Er beklagt darin besonders die Tyrannei der Massen und deren Neigung, ihre großen Führer in die Wüste zu schicken. Manchmal schicken die Massen aber auch etwas ganz anderes in die Wüste als Führer und Minarette. In der Schweiz hat sich bereits eine Volksinitiative gegen die Kopfprämie starkgemacht.

Der Revolutionsführer sollte seine Fatwa gegen die Bergrepublik noch einmal überdenken. Darf er wirklich das einzig real existierende fast kommunistische Land vernichten? Geht man so mit einem Brudervolk um?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • C
    claudia

    >>Offensichtlich hat diese Nachkriegsvernunft damit ja recht behalten.

  • U
    Umverteiler

    "Die Nachkriegsvernunft sah die Entstehung von Riesenvermögen als große Gefährdung der Demokratie." - Offensichtlich hat diese Nachkriegsvernunft damit ja recht behalten.

  • GO
    Guido Osterwelle

    >>Alle Einkommen, unabhängig von ihrer Höhe, werden mit 8,4 Prozent belastet. Niemand ist davon befreit. Auf diese Weise zahlen Spitzenverdiener oft jährlich weit über eine Million Franken in die Versicherung ein, um schließlich einmal eine Mindestrente zu beziehen.

  • R
    roterbaron

    Sehr schön geschrieben.

    Ein Lob für diesen Artikel und seinen Schreiber!