„Diese Wahl ist keine Gewissensfrage“

Noch vor ein paar Wochen wollte SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler eine Kanzlerin Angela Merkel unbedingt verhindern. Nun bittet der Chef der bayerischen SPD seine Genossen, morgen im Bundestag geschlossen für die CDU-Vorsitzende zu stimmen

INTERVIEW MAX HÄGLER

taz: Kaum ist der Koalitionsvertrag unterschrieben, kommt es zum ersten Streit: Ulla Schmidts Forderung nach einer Gleichstellung von Kassen- und Privatpatienten ist zwar SPD-Linie. Aber passt der Zeitpunkt?

Ludwig Stiegler: Ja, denn es ist kein Querschläger, sondern ein Eröffnungszug! Die Union will die Bürgerversicherung nicht, wir die Kopfpauschale nicht. Vielleicht gibt es ja den dritten Weg – das wird die Diskussion der nächsten sechs Monate.

Welche anderen Debatten mit der Union erwarten Sie?

Der Niedriglohnbereich wird uns nächstes Jahr beschäftigen. Auch darüber wird es öffentliche Auseinandersetzungen geben.

Werden diese Themen auch die bevorstehende SPD-Programmdiskussion prägen?

Die SPD muss die harte Frage der Ökonomie angehen: Persönliche Sicherheit auch in diesen schwierigen Zeiten ist ganz entscheidend. Hinter der damit verbundenen Neuausrichtung der politisch-ökonomischen Analyse muss anderes zurückstehen.

Hört man da eine Abkehr vom Sozialstaatsmodell?

Es gilt, die soziale Marktwirtschaft den veränderten Zeiten anzupassen. Etwa vom Shareholder Value zum Stakeholder Value zurückzukehren, zum Mehrwert für die Betroffenen und nicht nur für die Anteilseigener.

Morgen soll Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt werden. Kein Problem, meint Franz Müntefering, habe die Koalition doch numerisch ein dickes Polster. Eine Ankündigung, um Nein-Stimmen zu relativieren?

Es gibt sicher in allen Koalitionsfraktionen Leute, die irgendwelche Rechnungen zu begleichen haben. Es gibt auch bei CDU und CSU welche, die die Faust in der Tasche ballen. Gleichwohl sage ich als Sozialdemokrat: Wir haben uns vertraglich verpflichtet, Frau Merkel zu wählen. Der Parteitag hat das abgesegnet. Ich bin dafür bekannt, dass ich vor einer Vereinbarung kämpfe und nach Unterzeichnung mit derselben Entschlossenheit vertragstreu bin. Genau das erbitte ich auch von den anderen. Es geht nicht darum, dass Frau Merkel Erfolg hat, es geht um den Erfolg der Koalition. Und dort sind wir Partner auf gleicher Augenhöhe.

Und was sagen Sie Zweiflern?

Die Kanzlerwahl ist keine Gewissensfrage, zumal Frau Merkel alle Positionen – etwa in der Frage der Tarifautonomie – bereinigt hat, die unser Gewissen wirklich berühren können. Und wie wir schwierige Fragen lösen, hängt auch von dem Vertrauensverhältnis ab, das wir aufbauen.

Aber die Ereignisse in diesem Jahr, von Simonis über die Neuwahlen bis hin zu Bisky, haben doch eines bewiesen: dass Politik unberechenbar ist.

Der Parteitag hat gezeigt, dass wir zur Koalition stehen, und ich habe auch keinen in der Fraktion gehört, der sie nicht will. Die allermeisten wollen den Erfolg, daher mache ich mir keine Sorgen.

Nur ein Drittel der Bürger glaubt, dass die Herzlichkeit zwischen CDU und SPD echt ist.

Ich spüre jetzt einen deutlichen Unterschied zur bisherigen Arbeit im Vermittlungsausschuss, wo man sich nur belauert hat. Das heißt aber noch nicht, dass wir von einer Zweckehe zur Liebesheirat umgestiegen wären.

Und wo in dieser Partnerschaft steht Edmund Stoiber? Sie haben ja mit ihm die Wirtschaftsrunde bei den Koalitionsverhandlungen geleitet.

Wo auch immer, er steht nicht gut. Er ist überall angeeckt. Ich glaube, es hat dem Klima gut getan, dass er wieder zurück nach Bayern gegangen ist. Man muss aber trotzdem sagen: Die Koalitionsverhandlungen hat er hoch konzentriert geführt, und beim Thema Wirtschaft haben wir eine Menge gemeinsam bewegt.