Eine Gottsuche in eisiger Kälte

WEIHNACHTSORATORIUM Warm anziehen! Sven Holm und das Opernensemble Novoflot geben das Bach’sche Weihnachtsoratorium als szenisch raumgreifende und das Publikum einbeziehende Begehung im Radialsystem

Die Arie „Ich will nur dir zu Ehren leben“: ein ironischer Kommentar auf die Vergötzung der Arbeitswelt

VON KATHARINA GRANZIN

Es gibt keine Garderobe. Mäntel, Schals und anderes Zubehör müssen mitgeführt werden, denn ein Teil der Inszenierung wird im Freien gegeben. Manche Leute sind direkt von und mit ihren Weihnachtseinkäufen gekommen. Das ist gut, denn so kann der Bass-Solist Nils Cooper, der in einer Szene angetrunken stürzen muss, sich einigermaßen weich auf ein paar der abgestellten Taschen betten. Da nichts klirrt, waren vermutlich keine Glaskugeln darin.

Wir stehen im Studio B des Radialsystems, einem vom Architekturbüro Graft mit Hilfe von Blenden, hinter denen die MusikerInnen stehen, annähernd dreieckig gestalteten Raum, dem kleinsten aller Aufführungsorte des Abends.

Die vier SolistInnen, businesslike vor einer Powerpoint-Präsentation präsidierend, singen, ganz beiläufige Beschwingtheit, den Chor „Ehre sei dir, Gott, gesungen“, den man in dieser musikalischen Transparenz selten hört und der mit Fortschreiten des Stückes – damit bloß niemand ins Schwelgen gerät! – noch transparenter wird, als immer mehr Silbenmaterial einfach wegfällt (und der Bass um).

Wenn anschließend der Tenor Steffen Doberauer die Arie „Ich will nur dir zu Ehren leben“ singen darf, so ist auch dies im vorgegebenen Kontext – einer Betriebs-Weihnachtsfeier – ein ironischer Kommentar auf die Vergötzung der neuzeitlichen Arbeitswelt.

Dass wir die Szene alle schmunzelnd verfolgen, verweist vermutlich auf unsere eigene gottferne Existenz. Aber wir fühlen uns wohl hier, weil wir aus Kälte und Dunkelheit kommen. Das Publikum, das in wechselnder Formation durchs Haus geschleust wird, ist Teil der Choreografie. Für die Hälfte von uns hat der Abend im dunklen Saal begonnen. Nur Grubenlampen auf den Stirnen der MusikerInnen bilden dabei winzige Lichtinseln im Schwarz. Durch den Raum streifend, singt Bini Lee-Zauner die „Echo-Arie“, den einsilbigen Antworten des Heilands auf der Spur, die doch nur das Echo auf ihre eigene Stimme sind. Als danach draußen in eisiger Kälte die Gottsuche weitergeht, könnten verzagtere Seelen versucht sein, vor lauter existenzialistischer Finsternis in die Spree zu springen. Zum Glück gibt es Glühwein, der Tod Gottes aber bietet keinen Anlass zum Gesang.

Knabenchor im Anorak

Der Knabenchor Berlin steht hier, ein geordneter Haufen kleiner und großer Jungs im Anorak. „Wo ist der neugeborne König der Juden?“, skandieren sie chorisch sprechend, den kurzen Chor noch in Endlosschleife wiederholend, als ein Vermummter schon einzelne von ihnen fortträgt. Vor der Szene baumelt eine gehenkte Gestalt im langen Gewand. Aus einem seitlichen Lautsprecher eine Frauenstimme: „Wohin? Wohin? Zu Kreuzes Hügel“, Fragmente der Johannespassion haben sich hier eingeschlichen, man glaubt zu hören „Wir haben keinen König“, nein, die Knaben skandieren wieder endlos, über die Spree blickend: „Wir haben seinen Stern gesehn“. Die Armen. Sicher frieren sie furchtbar.

Nachdem auch noch die mythische Geburt zu Bethlehem in einer starken Szene von den Schülern Julian Gerull (13) und Ricardo Müller (11) musikalisch und philosophisch dekonstruiert worden ist, heißt es in der großen Halle endlich: „Jauchzet, frohlocket!“ Die ersten drei Kantaten stehen an.

Doch, ach, dem Frohlocken steht man nach der Todesnähe der ersten Hälfte, die Elemente aus den Kantaten 4 bis 6 kompilierte, ebenso skeptisch gegenüber wie den heiligen Worten des Evangeliums. Die Jungschauspieler spielen symbolträchtig Schach, die Altistin Hanna Dóra Sturludóttir hat Spaß mit ihren Koloraturen, und schon zu Beginn der zweiten Kantate löst sich die klassische Oratoriumsformation wieder auf.

Während Orchester und Chor sich in den Hintergrund zurückziehen, bleiben die SolistInnen allein in einem Bühnenbild zurück, das aus überdimensionierten Flugzeugwrackteilen zu bestehen scheint. Eine gewisse szenische Beliebigkeit haftet diesem zweiten Teil an. Nachdem die große Infragestellung bereits vorher so eindrücklich stattgefunden hat, bleibt einigermaßen unklar, was nun daraus inhaltlich folgen kann.

Da ist es nicht verkehrt, intellektuelle Anstrengungen herunterzufahren und zuzuhören, denn es spielen und singen alle wirklich großartig. Und da man am Schluss auch noch Freejazz von Bauer 4 bekommt – wer am Rand sitzt, sogar ein Bier –, kann man nach vier Stunden entspannt nach Hause gehen.

Im Radialsystem wieder am 23./25./26. und 27. Dezember