ausgehen und rumstehen
: Bekrückte Expeditionen ins Reich der versunkenen Nightlife-Kulturen

Ausgehen und rumstehen ist ja an sich schon eine anstrengende Sache. Noch anstrengender wird es mit einem Handikap, wie zum Beispiel einer kleinen Gehbehinderung, die es erfordert, so genannte Gehstützen, sprich Krücken, mit sich zu führen.

Wer jetzt denkt, so ein orthopädisches Accessoire würde einen Menschen irgendwie interessanter machen, würde gar Teilnahme, zuvorkommendes Verhalten evozieren, der irrt gründlich. Jedes Hinken, jedes Abweichen von der Norm wird argwöhnisch beobachtet, man bekommt verächtliche Blicke, spürt Angst und Distanz.

Strebt man zum Beispiel in einem gut gefüllten Kinosaal mit Gehhilfen zum Ausgang, so ist es keinesfalls üblich, dass einen die Cineasten in einigem Sicherheitsabstand überholen. Nein: Schnell flitzen sie haarscharf vorbei, hauen einem dabei fast die Krücken weg, getrieben von der Angst, sie müssten einen Moment langsam hinterhertrotten. Mit der Zeit nimmt die temporär Gehbehinderte so die Körpersprache der alten bösen Leute an: Man droht mit dem Stock, ist versucht, den rücksichtslosen Remplern mit der Krücke bösartig ein Bein zu stellen und heranrasende Fahrradfahrer mit einem beherzten Stockgriff in die Speichen aufzuhalten.

Aber all das alles kann einen lebendigen Menschen nicht vom Ausgehen abhalten. So ging es am Freitagabend zur Friendly Capitalism Lounge ins Haus Schwarzenberg. Schon zehnmal haben die Künstler Jim Avignon und Fehmi Baumbach zu dieser Veranstaltung geladen – da hat Herr Avignon zwischenzeitlich noch eine Galerie in New York gegründet, und Frau Baumbach ist mit Nachwuchs aufs Land gestadtflüchtet.

Schon die Fahrt zur pulsierenden Rosenthaler Straße glich einer Reise in die Vergangenheit. Ach, das waren Zeiten, damals, als man noch in Mitte ausging und sich in den Gegenden um den Hackeschen Markt rumtrieb! Der liebe Hinterhof tat zwar noch genauso hübsch zerbröckelt wie eh und je, am Ende der hohlen Gasse stand das wehrhafte Haus Schwarzenberg als letztes tapferes gallisches Dorf in der Mittehölle. Amüsierbereite Jugendgruppen trollten einem entgegen, verträumte Touristenpärchen säumten den idyllischen Gang.

Schon das Treppenhaus und der Comicladen im ersten Stock standen voll von Menschen. Die ausgestellte Kunst, diesmal zum Thema „time versus money“ schien wie immer freundlich und dekorativ, im hinteren Raumteil spielten Masha Qrella, Jens Friebe und andere bekannte Stadtmusikanten ihre Lieder. Aber die Melodien hörte man nur aus der Ferne, von der Kunst konnte man nicht allzu viel sehen – weil überall die unterschiedlichsten Menschen aus mehreren Ausgehgenerationen standen. Fremde blickten abschätzig an den Krücken herunter, Bekannten konnte man die chirurgischen Details einer Metallentfernung erklären und die Wirkung von morphiumhaltigen Schmerzmitteln erörtern.

Anstrengend ist, wie gesagt, das Ausgehen allemal. Geradezu unmöglich aber ist es, mit Gehstützen am Arm und mit Getränk und Zigarette in der Hand lässig herumzustehen und dabei eine gute Figur zu machen. Aber der Alkohol lässt Schmerz und Haltung vergessen. Zumal sich die Besucher sowieso lieber beständig gegenseitig fragten: „Warum ist es so voll?“ Nun, natürlich wegen der beliebten Künstler und des ansprechenden Programms und wegen des Nostalgieerlebnisses, an den historischen Ausgehort Mitte zurückzukehren. So liegt die Zukunft manchmal in der Vergangenheit – es wurde sogar angedacht, Gedächtniserlebnisfahrten zu versunkenen Ausgehkulturen zu unternehmen. Nächstes Wochenende ist Schöneberg dran. CHRISTIANE RÖSINGER