Abzug in die Mitte

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Israels Premierminister Ariel Scharon wird mit einer neuen Partei der Mitte in den Wahlkampf gehen. Gestern früh bat er bei Staatspräsident Mosche Katzav um Erlaubnis, die Knesset, das Parlament, aufzulösen. Sobald das geschieht, bleiben 90 Tage für den Wahlkampf. Als möglicher Termin für die Parlamentswahlen wird derzeit der 8. März 2006 diskutiert.

Scharon vergeudete keine Zeit, sondern berief, unmittelbar nachdem er seinen offiziellen Abschied vom Likud nahm, die potenziellen Mitglieder seiner neuen Liste zusammen. Unter dem Namen „Nationale Verantwortung“ will er die liberalen Politiker der beiden großen Fraktionen um sich versammeln sowie Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben – darunter etwa der Präsident der Universität Ben Gurion, Avischai Bravermann. Zwölf Mitglieder der Likud-Fraktion sind so gut wie sicher dabei.

Der einzige Abgeordnete der Arbeitspartei, der sich schon gestern zu Scharon bekannte, ist der Minister (ohne Aufgabenbereich) Chaim Ramon. Aus dem Umfeld des ehemaligen Oppositionsführers Schimon Peres, ein enger Freund Scharons, verlautete gestern, dass Peres die Arbeitspartei nicht verlassen will.

Erfahrungsgemäß sind Listen der politischen Mitte in Israel eher kurzlebig. Die 1999 gegründete Zentrumspartei, die zunächst vier Minister stellte, ist inzwischen komplett von der politischen Landschaft verschwunden. Die antireligiöse Schinui schaffte beim letzten Urnengang 15 Mandate. Umfragen gaben ihr jüngst nur noch zehn Knessetsitze. Der politische Analyst Jossi Verter von der Tageszeitung Ha’aretz gibt auch der „Nationalen Verantwortung“ Überlebenschancen nur für „eine Regierungsperiode“. Denn es ist Scharons „letzte Periode“, so erklärt Verter, und ohne ihn „wird es auch keine Partei geben“.

Mit gemischten Gefühlen reagierte die Likud-Fraktion auf ihren scheidenden Chef. „Lasst uns die Gläser heben“, rief der Abgeordnete Michael Eitan zu Beginn der einberufenen Sitzung. Eitan gehörte zu den schärfsten Kritikern des von Scharon vorangetriebenen Abzugs aus Gaza. Die Fraktion erwägt offenbar den Versuch, innerhalb der kommenden drei Wochen einen Ersatz-Premier zu finden, was laut Gesetz möglich ist, um bis zum ursprünglichen Wahltermin, November 2006, weiter zu regieren. Dazu müssten aber 61 der insgesamt 120 Stimmen im Abgeordnetenhaus rekrutiert werden – eine kaum erfüllbare Mission.

Zachi Hanegbi, Minister im Büro des Premierministers, der temporär den Vorsitz des Likud innehat, will noch in dieser Woche den Zentralrat der Partei einberufen, um über den neuen Vorsitzenden zu beraten. Aussichtsreichster Kandidat für diesen Posten ist derzeit Exfinanzminister Benjamin Netanjahu.

Völlig unklar bleibt vorläufig, mit welcher Agenda Scharon seine Wähler überzeugen will. Seine anhaltende Popularitätswelle im Volk verdankt er in erster Linie dem Abzug aus dem Gaza-Streifen. Erst gestern kündigte er indes erneut an, dass er „keinen weiteren Abzug“ plant. „Wir haben keine Ahnung, was Scharon will“, kommentierte Jossi Beilin, Chef des linken Parteibündnisses Meretz-Jachad. Er sieht jetzt „ein wahre Chance für eine Koalition unter der Führung des Friedenslagers“. Darin enthalten wären ehemalige Likud-Mitglieder, „die verstanden haben, dass sie sich selbst und die Nation 38 Jahre lang getäuscht haben“.

Scharon hält sich erklärtermaßen an den internationalen Friedensplan „Roadmap“, wobei jedoch weder Verhandlungen stattfinden noch die grundlegendsten Verpflichtungen erfüllt wurden. Erst gestern verkündete Innenminister Jitzhak Herzog, dass er „in den kommenden Wochen Baugenehmigungen für 350 neue Wohneinheiten“ in der jüdischen Siedlung Maale Adumim ausstellen werde.