Katholischer Umgang mit Missbrauch: Die Kleingläubigen
Beim Treffen der Messdiener in Rom wird es vor allem darum gehen, Teil von etwas Größerem zu sein. Ihren Glauben aber erschüttern die Missbrauchsfälle nicht.
BERLIN taz | Martin Winkler zieht an seiner Zigarette und schildert die Geschichte eines Glaubensbruders: Neunzigjährig ist der alte Mann, den Zweiten Weltkrieg hat er durchgemacht und dann die DDR - "die war nicht so hart, dafür aber länger", erzähle der alte Mann immer wieder - und trotzdem kommt er noch jeden Sonntag zum Gottesdienst in die Kirchengemeinde. "Vor diesem alten Mann", sagt dann Martin und schaut von seinem Kaffee auf, "ziehe ich den Hut."
Wenn der 21-jährige Ministrant Winkler diese Geschichte in einer Cafeteria am Ringcenter der Frankfurter Allee erzählt, macht er den Eindruck eines Mannes, der sich nicht leicht beirren lässt. Bei seinen Erzählungen schwingt stets mit: An seinem Glauben wird auch der aktuelle Zustand der Kirche nicht rütteln - Kindesmissbrauch hin oder her.
Winkler, der seit 1997 in der Ostberliner Gemeinde St. Mauritius als Messdiener arbeitet, kann viele solcher Geschichten erzählen. In ihnen zeigt sich der unerschütterliche Glaube an die katholische Kirche, gerade jetzt, wo alles sich in der Öffentlichkeit nur um die Vergehen pädophiler Priester dreht.
Neulich zum Beispiel, da war Fronleichnam. Die Gläubigen liefen bei der Prozession von der Straße in die Kirche und trugen einen Baldachin. Ein Fahrradfahrer sei vorbeigefahren und habe gerufen: "Die trauen sich noch auf die Straße". - "Jetzt erst recht", sagt Winkler.
Und erzählt weiter. Wenn es früher zwischen dem Handballspiel am Sonntag oder einem wichtigen Messedienst zu entscheiden galt, "dann bin ich immer zum Gottesdienst gegangen". Vor seinen Kollegen beim AC Berlin musste Winkler sich daher immer rechtfertigen. Bis er im Sommer 2006 auf einer Fahrt zum Spiel - acht Stunden hin, acht Stunden zurück - ihnen seinen Glauben erklärte. "Die Jungs im Bus musste ich über alles aufklären: Was Kommunion ist, was Fronleichnam ist, was Pfingsten und überhaupt was katholischer Glaube ist." Winkler lächelt stolz und sagt: "Drei von denen sind mittlerweile Katholiken."
Den Skandal ertragen
Bei aller Frömmigkeit, die Winkler zeigt, fällt schnell auf, worüber er lieber nicht sprechen möchte: über die Vorfälle von Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche. "Dazu möchte ich nichts sagen," erklärt er. "In solchen Fällen ist es besser, die Ergebnisse der Untersuchung abzuwarten. So lange möchte ich mir kein Urteil erlauben. Als kleiner Gläubiger habe ich mit dem, was in der Kirche passiert ist, außerdem nichts zu tun."
Sechs Monate Berichterstattung haben Winkler scheinbar nicht aus der Ruhe gebracht. Den aktuellen Skandal erträgt er wie ein CDU-Mitglied einst die Spendenaffäre von Helmut Kohl. War der katholische Kindesmissbrauch überhaupt ein Thema für Ministranten?
"Aber natürlich", antwortet Philipp Ploog. Der ehrenamtliche Mitarbeiter ist dem Ministrantenreferenten der Erzdiözese Berlin untergliedert. Er engagiert sich mit drei weiteren Freiwilligen im Arbeitskreis Ministrantenpastorale und unterstützt die Ministranten des Erzbistums Berlin bei ihren Aufgaben in den jeweiligen Gemeinden. Ploog und Winkler sind miteinander befreundet. "Natürlich haben wir das Thema in unseren Schulungen besprochen", sagt Ploog, "alles andere hätte mich aber auch gewundert. Wenn Oberministranten Probleme in der Kirche haben, dann ist es besser, wenn sie das mit uns vom Arbeitskreis besprechen, als still und heimlich aus der Kirche zu treten."
Allerdings ging es in den Gesprächen nur um die Berichterstattung über die Kirche, nie um konkrete Verdachtsfälle.
Den Dienst in der Gemeinde beginnt ein Kind, wenn es neun oder zehn Jahre alt ist und die heilige Kommunion hinter sich hat. Einige Kinder entschließen sich zum Kerzentragen und Buchhalten aus freien Stücken, einige andere auf Druck ihrer gläubigen Familie. Die meisten Messdiener hängen ihr Ministranten-Rochett nach dem Abitur an den Nagel.
Wer danach weitermacht wie Ploog oder Winkler der hat in der Kirche, "ohne viel zu tun, nur Positives erfahren", wie Ploog es beschreibt. Er sagt: "Alles, was in meinem Leben gut gelaufen ist, kann ich auf die Kirche zurückführen." Wenn das stimmt, dann muss in dem Leben des dreißigjährigen Berliner Polizisten schon lange einiges gut gelaufen sein. Am 6. Januar 1991, erinnert sich Ploog, begann er seinen Dienst als Ministrant.
Viele Messdiener, die nun nach Rom zur Wallfahrt gehen - aus Berlin sind das 177 der insgesamt etwa 1.000 Ministranten des Erzbistums -, werden sich in dieser Woche vor allem in dem Positiven bestärken lassen wollen, das sie mit Kirche und Glauben verbinden. Peter Hahnen, Referent für Ministrantenpastoral in der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge (AFJ), meint zu der Wallfahrt: "Gerade die Ministranten aus dem Osten müssen sich wieder vergewissern, dass man nicht allein ist, sondern Teil von etwas Größerem."
Dabei bekommen die Messdiener Unterstützung von oberster Stelle: Papst Benedikt XVI. wird sie zu einer Generalaudienz empfangen. Ist der katholische Kindesmissbrauch ein Thema auf der Ministrantenwallfahrt?
Peter Hahnen ist bereits in Rom, als er diese Frage gestellt bekommt. Am Handy sagt er etwas verlegen: "Bei einer Hochzeit werden sie die unangenehmen Themen eher meiden." Eine Ausgabe der Minibörse, einer Zeitschrift der Jugendseelsorge für Ministranten, habe den sexuellen Missbrauch bereits im Jahr 2001 aufgegriffen. Eine überarbeitete Neuauflage sei noch in diesem Jahr geplant. Hahnen meint: "Die Ministrantenpastoral muss sich bei dem Thema jedenfalls nicht verstecken."
Wer Martin Winkler als Messdiener erleben möchte, muss in den Berliner Bezirk Lichtenberg fahren. Die Kirche liegt kurz hinter dem S-Bahn-Ring an der Frankfurter Allee. Zwischen grauen Wohnhochhäusern mit grün umrahmten Fenstern und einem Bowlingcenter behauptet sich das rote Backsteingebäude samt schwarzem Glockenturm. Auf dem Kirchengelände steht neben Pfarrhaus und Kirche ein mannshohes Kreuz, das von Efeu bewachsen ist. Die Kirche steht an dieser Stelle seit ihrer Weihung im Jahre 1892.
Sie lieben die Strenge
Es ist Sonntag, eine Woche vor der Wallfahrt nach Rom. Ein Kind aus einer kamerunischen Familie wird getauft. Die Kirche ist voll von Gläubigen, die Menschen drängen sich auf den Bänken. Nachdem der Pfarrer die Taufe gespendet hat, singt die Familie ein Lied aus der afrikanischen Heimat. Viele klatschen danach. Doch der Pfarrer ruft zornig dazwischen: "Wir sind hier nicht auf einer kulturellen Veranstaltung, sondern in einem Gottesdienst!"
Trotz oder vielleicht wegen dieser Strenge ist der Altar bei der Eucharistiefeier voll. Ob alt oder jung, alle strömen nach vorne. Vor dem Opfertisch knien zehn Ministranten und halten andächtig die Hände vor der Brust. Auch Winkler ist unter ihnen. Später erzählt er: "Es nicht gewöhnlich, so viel Messdiener an einem sonntäglichen Gottesdienst zu sehen. Schon gar nicht in Lichtenberg."
Hinter dem Rücken der Ministranten läuft nun der Pfarrer auf und ab und spricht: "Der Leib Christi", bevor er jedem Gläubigen die Hostie in den Mund legt. Nach der Messe steht Martin Winkler vor der Kirche und schaut auf die Leute, die langsam herauskommen. Zufrieden raucht er an einer selbst gedrehten Zigarette.Wenn es in sieben Tagen nach Rom geht, wird er 24 Stunden Bus fahren. Die Reise wird anstrengend. "Jetzt gehe ich erst mal eine Runde schlafen", sagt er. War der Samstagabend gestern noch sehr lang? "Nein. Ich hatte Nachtschicht", antwortet der angehende Krankenpfleger. "Und wenn schon, wer feiern geht, der kann auch zum Gottesdienst gehen." Nein, leicht beirren lässt sich Martin Winkler nicht.
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